Malbalor freute sich natürlich, am Leben zu sein, wunderte sich aber über die plötzliche Zurückhaltung der Dritten, wenn es um das Leben von Zwergen ging, die nicht zu ihrem Stamm gehörten. »Es war niemand von den Dritten«, sagte er mit fester Stimme und unmittelbar zu Ginsgar. »Ich habe einem von ihnen das Tuch heruntergerissen. Keiner von uns verzichtet auf seinen Bart.«
»Ein bartloser Zwerg?«, entfuhr es Ginsgar. »Dann kann es ebenso ein Ausgestoßener gewesen sein. Wir bei den Ersten haben es immer so gehandhabt: Wer gegen die Gesetze verstößt, wird geschoren und muss das Reich verlassen, bis ihm ein neuer Bart gewachsen ist.« Er legte die Hände an den Gürtel. »Ein listiger Dritter oder Räuber aus den Städten der Freien?«
»Was sollten die Freien mit...« Malbalor sah zu Diemo. »Was ist eigentlich gestohlen worden?« Die Kiefer des Kriegers mahlten. »Nur der Diamant, König.«
»Welcher Diamant? Wir...« Er verstummte, als er die Tragweite der Worte verstand. »Dieser Diamant? Das Geschenk Gandogars?« Seine Falten wurden noch tiefer, er glaubte zu spüren, wie sie sich in sein Fleisch gruben.
Ginsgar trat vor. »Dein Hinweis war sehr wichtig, König. Ich schlage vor, dass wir dem Großkönig eine Nachricht zukommen lassen. Ich bleibe dabei, wenn es um die Schuldigen geht: die Dritten oder die Freien.« »Aus welchem Grund, Ginsgar?«, fragte Malbalor hart und entfernte den Ersten in Gedanken von der Liste seiner Stellvertreter. »Was nutzt ihnen der Diamant ohne einen Magus?«
»Die Freien könnten eifersüchtig sein, weil sie keinen bekommen haben. Es sind Ausgestoßene. Verbrecher. Das dürfen wir niemals vergessen.«
»Du vergisst niemals etwas, Ginsgar. Weder die Vergangenheit der Dritten noch die der Freien«, erwiderte der König scharf.
»Im Gegensatz zu manch anderen«, gab er entschlossen zurück. »Die Dritten stehlen, um uns in tiefere Bedrängnis zu bringen. Zuerst bauen sie diese Maschine, dann rauben sie uns aus, um sich über uns lustig zu machen. Sie nehmen sich das Wertvollste des Geborgenen Landes.«
Malbalor schritt an ihm vorbei. »Das Wertvollste des Geborgenen Landes ist der Zusammenhalt seiner Bewohner. Unser Zusammenhalt.« Er schaute ihn an. »Du, Ginsgar Ungewalt aus dem Clan der Nagelschmieds vom Stamm des Ersten, wirst das Schwarze Gebirge morgen mitsamt deinem Clan verlassen. Stifte in deiner Heimat Unfrieden, aber nicht bei mir.« Er ließ ihn stehen und verließ das Zimmer.
Mit den Erklärungen des Zwerges konnte er sich ganz und gar nicht zufrieden geben, auch wenn es sicher einfacher gewesen wäre.
V
Das Geborgene Land, Elbenreich Älandur, 6241. Sonnenzyklus, Spätfrühling.
Tungdil betrachtete den Wald, durch den sie zogen, und fand, dass er sich seit seinem letzten Besuch bei Liütasil gehörig verändert hatte. Bäume, die auf dem Boden Älandurs gediehen, wuchsen offenbar schneller. Ingrimmsch, der wie sein Freund neben dem Pony herlief, folgte seinen Blicken. »Ich dachte schon, ich bilde es mir ein«, meinte er dann. »Das lange Gestrüpp ist gewachsen wie Unkraut.« Er zog den Krähenschnabel aus der Halterung der Satteltasche des Packponys und nahm ihn locker in die Linke. »Es ist wie immer: Ich komme mir anders nackt vor«, erklärte er Tungdil. »Ich mag den Wahn verloren haben, doch ich bleibe ein Krieger. Falls sich eine Ranke um mich schlängelt, will ich gewappnet sein.«
»Ich vertraue den Elben.«
»Ich auch, Gelehrter.« Ingrimmsch schulterte die Waffe. »Aber ihrem Gemüse nicht.«
Zwei Elben traten unversehens aus dem Schutz der Bäume. Sie trugen Gewänder aus fein gewirkten hellen Stoffen und kostbare Spangen aus Silber und Gold in den langen blonden Haaren; die elegante Kleidung fiel lose um die schlanken, hoch gewachsenen Körper.
»Willkommen in Älandur, Tungdil Goldhand und Boindil Zweiklinge«, sang der Rechte mehr als er sprach, und beide verneigten sich vor den Zwergen.
»Bei Vraccas, ihre Gesichter sind noch zerbrechlicher geworden«, raunte Ingrimmsch. »Oder liegt es an den Kleidern, die sie anhaben?«
Tungdil grinste. »Du bist der Anführer unserer Mission. Es liegt an dir, ihnen zu antworten«, flüsterte er zurück. »Ich?«
»Sicher, wer sonst?«
»Du bist der Gelehrte!«
»Aber Gandogar hat dich beauftragt. Du hast mich lediglich entführt.« Tungdil genoss es sichtlich, den Krieger ins Schwitzen zu bringen.
Boindil seufzte und verneigte sich ebenfalls, wenn auch lange nicht so tief wie die Elben vor ihren Besuchern. »Vraccas sei mit euch«, grüßte er stockend. »Wir sind von unserem Großkönig gesandt worden, um euch unsere Aufwartung zu machen.« Er deutete nach hinten auf den Packesel. »Das ist für Liütasil, und...«, umständlich kramte er in seinen Taschen, bis er das zerknitterte Schreiben von Eldrur fand, »das ist unser Schreiben von eurer Delegation.« Er reckte es ihnen entgegen. »Wir... kommen in Frieden.« Danach schaute er zu Tungdil und verdrehte die Augen. »Ich kann das nicht«, wisperte er hilflos. »Bitte, mach du weiter, bevor ich noch einen Krieg auslöse!«
Die Elben studierten sorgfältig den Brief und lächelten wieder. »Es freut uns, dass sich die Kinder des Schmieds für unsere Kultur erwärmen. Wir werden euch sehr gern durch Älandur führen und euch zeigen, wie man bei uns lebt«, sagte der Sprecher, trat zur Seite und deutete mit ausgestreckter Hand auf den Weg. »Kommt. Wir haben bereits ein Quartier für euch hergerichtet.«
»Doch hoffentlich nicht zwischen irgendwelchen Wipfeln?«, entschlüpfte es Ingrimmsch, dabei streckte er die Finger nach dem Schreiben aus. Er erhielt es nach einem Zögern wieder. »Das Nisten dort oben überlasse ich den Vögeln.«
»Wir wissen um die Vorlieben eures Volkes«, antwortete ihm der Elb freundlich und ging voraus. »Ihr seid sehr nachsichtig«, bedankte sich Tungdil und ergriff nach der mittelschweren, doch sicherlich ungewollten Beleidigung endlich das Wort, was seinen Freund zu einem lauten, erleichterten Ausatmen veranlasste. »Wir bringen Geschenke für Euren Fürsten Liütasil.«
»Unser Fürst wird sich sehr über den Esel freuen«, lachte der Elb glasklar und so rein, dass es unangenehm für die Zwergenohren wurde.
»Nein, natürlich ist nicht der Esel das Geschenk«, stimmte Tungdil in die Heiterkeit ein, schon allein, um die Stimme des Elben zu überlagern. »Er trägt nur die Kostbarkeiten.«
»Ich dachte es mir. Aber einen Esel hat er bislang noch nie geschenkt bekommen. Es wäre eine erfrischende Neuerung gewesen.« Er verneigte sich nochmals. »Ich bin Tiwalün, das ist Vilanoil. Wir sind euch als Führer durch Älandur zur Seite gestellt worden. All eure Fragen richtet ihr an mich oder Vilanoil. Wir werden eure Neugierde gern stillen.«
»Meinen Dank, Tiwalün.« Tungdil erkannte den Pfad, auf dem sie liefen, wieder. Er würde sie zu der Lichtung führen, wo er sich mit Fürst Liütasil getroffen und über die Eoil gesprochen hatte. Höflich erkundigte er sich nach dem Befinden des Herrschers.
»Unser Herr ist wohlauf, befindet sich jedoch im Südosten des Reiches, um Angelegenheiten zu regeln«, sagte Tiwalün und trat auf eine waldfreie Fläche, wo ein Zelt aufgebaut stand. »Sobald er diese zu seiner Zufriedenheit gelöst hat, wird er herkommen und mit euch sprechen. Nun wünsche ich euch eine gute Nacht.« Tungdil sah die Wände aus grünem Samt. »Es ist das Fürstenzelt«, sagte er zu Ingrimmsch. »Wir bedanken uns für die Ehre, die uns zuteil wird«, richtete er seine Worte an Tiwalün und fügte in der Sprache der Elben eine Zwergenweisheit hinzu: »Man erkennt seine Freunde an der Art, wie man bewirtet wird.«
Vilanoil zuckte zusammen, und Tiwalüns Antlitz verlor für die Dauer eines Blitzes seine stete Beherrschtheit. »Liütasil erwähnte, dass man Euch den Gelehrten nennt, aber dass es Euch gelang, unsere Sprache zu erlernen, hat er uns verschwiegen«, sagte Tiwalün dann anerkennend, verneigte sich und wandte sich ab, dann blieb er stehen. »Dürfte ich bitte das Schreiben haben, Boindil Zweiklinge? Ich möchte es dem Fürsten senden, damit er mit eigenen Augen liest, wie gut Eldrur von Euch gesprochen hat.«