Выбрать главу

»Keine voreiligen Schlüsse«, warnte Tungdil seinen Freund und sich selbst. Er nahm sich von dem Tee, der in einer Silberkanne auf dem anderen Ofen stand, und goss sich einen Becher voll. »Ich werde schauen, was ich übersetzen kann. Vielleicht ist es eine Anweisung, uns nicht jedes kleine Geheimnis Älandurs zu offenbaren.« »Spione«, betonte Ingrimmsch mit gewichtiger Miene. »Für mich gibt es keinen Zweifel mehr.« Er ging zu einem der Betten, die für die Gäste aufgestellt worden waren, und legte sich hinein. Nach kurzem Hinundherwälzen stand er auf, nahm sich die Decke und legte sich auf den Boden. »Zu weich«, meinte er und schloss die Augen. »Du hältst heute Nacht die erste Wache«, sagte er. »Weck mich, wenn du abgelöst werden willst.«

»Wache?« Tungdil schaute zu ihm. »Was soll das?«

»Ich traue den Spitzohren nicht mehr.« »Aber wenn es nur eine harmlose Anweisung ist...« »... dann hätten die Spitzohren sie offen in das Schreiben einfügen können«, blieb er hartnäckig.

»... was wir wiederum als grob unhöflich hätten auffassen können.« Tungdil wollte die Elben nicht vorschnell verurteilen, auch wenn ihm ihr Verhalten merkwürdig vorkam. Ein bisschen mehr als merkwürdig. Lautes Schnarchen verriet ihm, dass Boindil das Streitgespräch nicht weiter vertiefen wollte. Daher drehte er den Docht der Lampe höher, um besser sehen zu können. Es würde eine lange Nacht werden.

Das Geborgene Land Königreich Urgon, Hauptstadt Dreigipfelburg 6241. Sonnenzyklus, Spätfrühling.

»Ist es in Gauragar zu dieser Zeit bereits wärmer als bei uns?«, fragte König Ortger, ein Mann von beinahe zwanzig Zyklen, mit einer Gestalt wie jeder andere und leider deutlich hervorstehenden Froschaugen; ohne sie wäre er zweifellos als adrett zu bezeichnen gewesen. Er rückte seine mit Blattgold veredelte Lederpanzerung zurecht und zog den Helm ab. Darunter kamen kurze schwarze Haare zum Vorschein, die sich am oberen Hinterkopf bereits lichteten. Dafür wuchs ihm ein dichter schwarzer Bart, den er sich stehen ließ, um älter zu wirken.

»Hoheit, Eure Reise führt Euch nach Porista. Es ist, so wurde mir gesagt, eine sehr schöne und liebreizende Gegend«, antwortete der Leibdiener.

Ortger schaute über die zehn Truhen, in denen sich seine Gewänder für die Reise befanden. »Ich wollte wissen, ob es wärmer als bei uns ist. Dann könnte ich mit einer einzigen Truhe auskommen.«

»Eine Truhe?«, fragte der Mann ungläubig.

»Gewiss. Ich will schnell vorankommen, und das gelingt mir nicht, wenn ich wie ein Kleiderhändler beladen bin.« Er zeigte auf eine. »Diese nehme ich mit, die anderen sollen im Palast bleiben.«

»Sehr wohl«, verneigte sich der Diener und winkte vier Ankleidedamen heran, die sofort begannen, die nicht benötigten Gewänder zurück in die Schränke zu packen.

Ortger sah ihnen zu, dann stellte er sich ans Fenster und schaute über die unendlich wirkenden Gipfelketten, die sich vor ihm ausbreiteten.

Der Palast stand auf dem mächtigsten der drei Hügel, auf denen die Hauptstadt errichtet worden war; unter ihm lag die Siedlung mit ihren bunten Steinhäusern. Holz gab es in den Bergen kaum, daher wurde alles aus Stein errichtet, sofern es möglich war. Verschiedene Gesteinsarten ergaben unterschiedliche Farben, und so zeigte sich Urgon trotz der klobigen, viereckigen Bauart als bunte Stadt.

Ortger war recht unerwartet zu seinem Thron in Urgon gekommen. Nachdem der wahnsinnige Belletain in seiner Verblendung gedroht hatte, nach dem Überfall auf das Schwarze Gebirge und dem Tod Tausender unschuldiger Zwerge einen weiteren Angriff zu führen, hatten ihn mutige Offiziere abgesetzt. Ortger war ein entfernter Verwandter von Lothaire, dem beliebten Vorgänger Belletains, und hatte ein beschauliches Leben weit, weit abseits von Dreigipfelburg in der Nähe der Grenze zum Trollreich Borwöl geführt, als ihn die Nachricht erreicht hatte, dass er der neue Herrscher über die Berge Urgons werden solle. Er hatte nicht lange gebraucht, um die Entscheidung zu treffen. Bereut hatte er sie in den fünf Zyklen seiner Herrschaft niemals.

Es klopfte, ein Wärter trat ein. »Eure Garde ist abreisebereit, Hoheit«, meldete er.

»Es sind nur die schnellsten Pferde ausgewählt worden?«, vergewisserte sich Ortger.

»Wie Ihr es befohlen habt, Hoheit. Die fünfhundert Meilen bis nach Porista werden schnell zurückgelegt sein.« Ortger stülpte den Helm auf den Schopf und schickte die Truhe nach unten. »Eile ist auch dringend geboten.« Er erinnerte sich an die Nachricht von Prinz Mallen, in welcher der Raub des Diamanten Tabains geschildert wurde. Die Beschreibung des schrecklichen Wesens, das unter den Wachen schlimmer als ein Tier gewütet hatte, hatte ihm einen Albtraum beschert. Einen sehr echt wirkenden Traum, der sein Herz zum Rasen gebracht hatte. Eine Bestie hatte ihn durch den Palast gehetzt und jeden Mann, dem sie begegnet war, mit bloßen Händen zerrissen. Er hatte das Brüllen so deutlich vernommen, als hätte sie neben seinem Bett gestanden.

Ihn schauderte es. Ortger wollte nicht an die Bilder der Nacht denken und blickte aus dem Fenster über die friedlichen Gipfel Urgons und seine Stadt.

Mit dem Raub rückte das Verschwinden des ersten Steines in Ran Ribastur für ihn in ein neues Licht. »Ist unser Diamant sicher verwahrt?«

»Wir haben ihn an den Ort gebracht, den Ihr uns gezeigt habt, Hoheit.«

»Wie viel Mann stehen Wache?«

»Dreißig Wärter, Hoheit. Tag und Nacht. Vier Speerschleudern sind aufgestellt und jederzeit feuerbereit. Wir laden und entspannen sie im Wechsel, damit die Sehnen nicht durch den ständigen Zug reißen.« Der Herrscher hörte es mit Zufriedenheit. Mehr konnte er zum Schutz nicht aufbieten. Wer sich den Weg durch seine Soldaten gebahnt hatte, wurde durch die steinerne Tür vor der Kammer tief im Bauch des Palastes aufgehalten. Sie war so dick und schwer, dass sie an Ort und Stelle aus dem Berg gemeißelt und mit Scharnieren versehen worden war; erst danach hatten sie den Raum dahinter aus dem Felsen geschlagen. Es bedurfte der Kraft von vier Ochsen, um sie mithilfe einer Winde und Ketten überhaupt zu öffnen. Nicht einmal die Kraft eines Trolls hätte ausgereicht, um die Tür zu bewegen.

Dennoch schritt Ortger mit einem unguten Gefühl durch seinen schlichten Steinpalast, der Besucher mehr an eine militärische Befestigung denn eine königliche Residenz erinnerte. Er erreichte den Hof, schwang sich in den Sattel und begab sich an die Seite von Meinart, dem Hauptmann der Garde. »Im Galopp nach Porista«, befahl er knapp. Gleich darauf donnerten die Pferde zum Tor hinaus und die Sträßchen Dreigipfelburgs entlang nach Südwesten.

Sie jagten die schmalen Wege entlang, die mitunter nur zwei Pferde nebeneinander erlaubten. Rechts ragten Wände senkrecht auf und stürmten den Himmel, links gähnten finstere Abgründe und schier unendlich lange Steilhänge, während in weiter Entfernung Gipfel und Bergwiesen von der Sonne beschienen wurden; Licht und Schatten spielten miteinander. Vergaß man aufgrund der schönen Aussicht, wohin man ritt, bezahlte man die Unachtsamkeit rasch mit dem Leben.

Der forsche Ritt erforderte stete Umsicht. Der Hauptmann sandte einen Gardisten voraus, der ihnen Platz schaffen sollte. Falls ihnen ein Gespann ohne Vorwarnung hinter einer Biegung begeg nete, könnte es zu Verletzten, wenn nicht sogar Toten kommen. Wer vom Bock oder aus dem Sattel stürzte, war verloren. Die Schluchten Urgons kannten keine Gnade.

Sie überquerten einen schmalen Pass.

Ortger dachte an seinen Traum und wandte den Kopf aus einem unbestimmten Gefühl heraus zurück. Von hier aus hatte man einen guten Blick auf Dreigipfelburg, das malerisch vom Sonnenlicht umspielt wurde. Und in einem der Strahlen, die durch die weißen Wolken brachen, blitzte es unmittelbar vor dem Eingang zum Palast metallisch auf.