Dem König stieg der Geruch des eigenen, trocknenden Urins in die Nase und erinnerte ihn an die Schmach und seine allzu menschliche, durchaus verständliche Feigheit. Der Angreifer sah nicht wie dieses Ding aus, das Mallen in seinem Brief beschrieben hatte. Bis auf zwei Dinge. Ortger rief sich das schreckliche Gesicht hinter dem dicken Glas in Erinnerung, und er wusste das Leuchten der Zeichen auf der Rüstung zu deuten: Magie. »Wir ziehen weiter nach Porista«, entschied er. »Die Nachricht über den Raub eines weiteren Steines muss den anderen Herrschern mitgeteilt werden. Die verbliebenen Diamanten müssen noch besser beschützt werden.« Er ließ das Pferd antraben. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wie es aussieht, gibt es jemanden im Geborgenen Land, der sich auf Magie versteht und die Macht an sich reißen will. Und nun vorwärts!«
Der Trupp verfiel in Galopp und jagte ein zweites Mal den Weg entlang, den sie heute schon einmal genommen hatten.
Ortger versagte sich allerdings einen neuerlichen Blick über die Schulter nach Dreigipfelburg. Die Angst, wieder einer Katastrophe ins Auge sehen zu müssen, war zu groß.
Das Geborgene Land, Elbenreich Älandur, 6241. Sonnenzyklus, Spätfrühling.
»Ihr seid schon wach, Tungdil Goldhand! Da komme ich mit dem Frühstück hoffentlich nicht zu spät?« Der Zwerg fuhr erschrocken zusammen, obwohl die freundliche Stimme in seinem Rücken keinen Anlass zur Beunruhigung gegeben hatte. Sie klang nicht bedrohlich, sondern erstaunt und auch ein wenig beleidigt. Das Begleitschreiben, über dem er noch immer brütete, hatte der Elb nun auf jeden Fall gesehen. Jetzt half nur noch die Flucht nach vorn.
»Ich bin es gewohnt, mit den Vögeln aufzustehen«, antwortete Tungdil und wandte sich Tiwalün zu, der lautlos das Zelt betreten hatte und nun hinter ihm stand. »Ich weiß, es ist schwierig, an ein Zelt zu klopfen, um auf sich aufmerksam zu machen, bevor man eintritt, aber Ihr hättet es wenigstens versuchen können.«
»Ich entschuldige mich vielmals. Das Frühstück sollte eine Überraschung werden«, sagte der Elb und verneigte sich, ohne die Augen jedoch von dem Schreiben zu wenden. »Ihr habt es also gefunden?«
Tungdil wusste nicht recht, was Tiwalün damit meinte, den Brief oder die geheime Botschaft darin. »Ja. Mein Freund hatte das Schreiben dort verstaut, wo es eigentlich nicht hingehörte.« Er hatte sich entschlossen, ein wenig Wahrheit aufblitzen zu lassen. »Es fiel ins Wasser, ich trocknete es am Ofen, und da kamen diese Zeilen zum Vorschein.« Er deutete auf die blassblauen Symbole. »Ich frage Euch und verlange Ehrlichkeit: Was hat diese koboldische Geheimniskrämerei zu bedeuten? Sind Eure Delegationen, die durch das Geborgene Land reisen, Spione, wie man annehmen könnte? Versucht erst gar nicht, mich zu belügen, denn ich werde Fürst Liütasil persönlich danach fragen.«
Tiwalün sah ihn eindringlich an und versuchte offenbar, an seinen Zügen abzulesen, was oder wie viel er wusste. »Niemals könnte ich einen Helden belügen, der unser Reich Älandur mit vor dem Untergang bewahrt hat«, sagte er ernst. »Die Zeilen, die durch die Wärme sichtbar wurden, haben nichts mit dem Volk der Zwerge zu tun. Das schwöre ich bei Sitalia.«
»Dann sagt mir, was sie bedeuten.«
»Das darf ich nicht. Fragt unseren Fürsten. Es geschieht auf sein Geheiß.« Er streckte die Hand aus. »Darf ich das Schreiben haben?«
Tungdil faltete es zusammen und schob es unter sein Ledergewand. »Ich werde es Liütasil selbst überreichen«, sagte er freundlich. So ging er sicher, dass der Elbenfürst ihn empfing und er ihn nach dem geheimnisvollen Getue fragen konnte.
Tiwalün machte ein Gesicht, als hätte ihm ein Ork einen Heiratsantrag angedient. »Wie Ihr wünscht, Tungdil Goldhand. Er wird sich sicher freuen, mit Euch zu sprechen.« Der Duft von frischem Brot durchzog das Zelt. »Stärkt Euch, danach führe ich Euch und Euren Freund durch unser Reich.« Er verneigte sich und zog sich zurück, während Elben in weniger festlicher Kleidung den Tisch deckten und Getränke eingössen. Boindil erschien im Kettenhemd; er hob die Nase und schnupperte absichtlich laut. »Wenn das mal nicht gut riecht«, rief er. Er freute er sich auf das Essen und schaute den Elben zu, die letzte Handgriffe versahen, bevor sie sich aus dem Zelt zurückzogen und die Zwerge allein ließen. »Hast du die ganze Nacht gewacht?«, fragte er, als es keine neugierigen Ohren mehr um sie herum gab.
»Ich habe übersetzt«, verbesserte Tungdil und begab sich an den Tisch.
»Und?«, drängte ihn Ingrimmsch. »Was haben die Elben geschrieben?«
Tungdil erzählte ihm von der knappen Unterhaltung mit Tiwalün. »Was er nicht weiß, ist, dass ich einen Teil des Briefes übersetzt habe. Aber er hilft uns nicht wirklich dabei, hinter das Rätsel zu kommen. Der Rest ist unleserlich, entweder durch das Badewasser vernichtet oder mittels Zeichen geschrieben, die ich nicht kenne.« Er belegte sich ein Brot, goss sich von dem Tee ein und gab etwas Honig hinein. Der Geruch von Nelken, Zimt und zweierlei Mokardamsorten schlug ihm entgegen. Die Zutaten waren aufgekocht worden und verbanden sich zusammen mit den Kräutern und der Milch zu einem sehr feinen, gewürzten Getränk, wie er nach einem Schluck feststellte. Auch wenn alles in ihm nach Bier, Branntwein oder anderem Alkohol lechzte, hörte er nicht auf das Verlangen und blieb bei seinem Tee.
Boindil betrachtete ihn mürrisch. »Du machst das absichtlich, Gelehrter«, unterstellte er ihm. »Du lässt mich zappeln.«
»Wegen des Briefs?« Tungdil grinste. »Nein, ich war nur in Gedanken.« Er schmierte sich ein Brot und suchte wie Ingrimmsch vergebens nach einem Stück saftigem Fleisch. Offenbar verzichteten die Elben morgens darauf, und so langte er nach den gekochten Eiern. »Was ich lesen konnte, war durchaus eine Empfehlung, die uns als Helden pries und größtmögliche Aufmerksamkeit verlangte. Die übrigen Worte waren verhindern, dass sie Liütasil, außerdem nur abseits von unseren neuen Bauten führen und nicht länger als vier Umläufe verweilen, danach sollten sie unter Ausreden abgeschoben werden. Schützt ihr schlechtes Benehmen vor.« Er versuchte eines der Eier und wurde von dem Geschmack überrascht. Ohne dass er es gewürzt hatte, schmeckte es nach einer Prise Salz und weiteren Aromen.
Boindil war es gleichermaßen aufgefallen. »Womit die wohl ihre Hühner füttern?«
»Wer sagt, dass es Eier von Hühnern sind?«
Der Zwerg kaute langsamer. »Ich habe die Gefahren von solchen Missionen falsch eingeschätzt: fremde Küche«, seufzte er und schluckte geräuschvoll. Er dachte an das erste Mahl bei den Freien in Goldhort, das aus seltsamen Zutaten bestanden hatte, wie Käferfleisch und Madenbier. »Ich verstehe die Anweisung so, dass die Elben uns ausgewählte Orte zeigen sollen, ohne dass wir mit Liütasil reden, und wir bald wieder aus Älandur verschwinden müssen.«
Tungdil nickte. »Die Erwähnung dieser neuen Bauten macht mich stutzig«, sagte er. »Was gibt es an ihnen, dass man sie vor uns und wahrscheinlich vor dem Rest des Geborgenen Landes verheimlichen muss?« Ingrimmsch zeigte ihm sein altes Kämpferlächeln, auch wenn es ohne das Feuer in den Augen nicht mehr so irre wirkte wie früher. Abgesehen von seinem Sinn für Humor und der Frisur, glich er immer mehr seinem verstorbenen Zwillingsbruder. »Ich verstehe. Wenn sie uns sagen, wir gehen nach links, gehen wir nach rechts.« »Damit sie einen Vorwand bekommen, uns noch schneller des Landes zu verweisen?« Tungdil nahm sich noch mehr von den Eiern, schnitt sie klein, gab sie aufs Brot und verteilte Bärlauchsenf darüber. »Aber sie haben den Brief doch nicht bekommen und wissen nichts von den Anweisungen.« »Tiwalün kam leise wie eine Felsenkatze herein. Ich weiß nicht, wie lange er hinter mir stand. Ich vermute, er hat mindestens einen Teil davon lesen können«, meinte er. »Wir haben noch drei Umläufe Zeit. An den Tagen werden wir uns fügen, doch in der Nacht gehen wir auf die Suche. Halte dich bereit, ohne Schlaf auszukommen.«