»Herumschleichen wie ein Alb«, brummte Boindil unglücklich. »Die Heimtücke war noch nie meine Stärke. Ich hoffe, ich verrate uns nicht durch eine Ungeschicktheit.«
»Wir schlagen sie mit ihren eigenen Waffen«, meinte Tungdil. »Was bleibt uns anderes übrig?« Sie verzehrten ihr Frühstück in aller Ruhe und ließen sich nicht von dem wieder auftauchenden Tiwalün hetzen. Auf den Ponys ging es gegen Mittag weiter in Richtung des Landesinneren. Sie ritten durch die tiefgrünen, friedlichen Wälder, in denen üble Gedanken nicht lange verweilten. Dazu war es einfach zu schön, auch ohne das Gebirge, das zumindest von Ingrimmsch lautstark vermisst wurden.
Der Elb wurde nicht müde, ihnen die Schönheit der verschiedenen Bäume in gewandter Sprache zu schildern; es war, als versuche er, sie mit seinen Beschreibungen einzulullen.
Hätte es den Brief nicht gegeben, wäre es ihm gewiss gelungen.
So aber nickten Tungdil und Ingrimmsch zwar, schauten sich jedoch unentwegt um und hielten Ausschau nach den kleinsten Auffälligkeiten. Dabei entging ihnen nicht, dass sie niemals über Berge ritten, sondern immer in den waldreichen Tälern blieben, wo die Sichtweite nicht mehr als einen Pfeilflug betrug.
Sie kannten natürlich den Grund. Als Tungdil Vilanoil nach Gebirgen oder wenigstens ein paar waldlosen Hügeln fragte, zeigte der Elb sich bestürzt, dass die Gäste schon genug von den herrlichen, einmaligen, unerreichten Hainen Älandurs hätten. Für den nachfolgenden Tag versprach er ihnen eine Route mit Aussicht. Mit Einbruch der Dunkelheit ritten sie auf ein von innen hell erleuchtetes Gebäude zu, das Tungdil und Boindil bereits kannten. Hier hatten sie zusammen mit Andökai den Elbenfürsten zum ersten Mal um Beistand gegen Nöd'onn gebeten. Mächtige Bäume bildeten wuchtige, lebende Pfeiler für das dichte Dach aus Laubkronen in zweihundert Schritt Höhe.
Doch die natürliche Halle selbst hatte sich gegenüber dem ersten Besuch radikal verändert. Die kunstvollen Mosaiken aus hauchdünnen Gold- und Palandiumplättchen zwischen den Stämmen, durch die einst die Sterne gefunkelt hatten, fehlten. Sie waren einfachen, doch riesigen Gemälden gewichen, die nichts als verschiedene Abstufungen von Weiß zeigten; hier und da schimmerten Diamanten im Licht der Fackeln auf, die wie willkürlich darauf gestreut wirkten. Aus dem Prunk und der Zuschaustellung der überlegenen Handwerkskunst war eine ungewohnte, seltsame Schlichtheit geworden, welche die Zwerge wegen ihrer Monumentalität nicht weniger beeindruckte.
»Was habt ihr denn mit dem ganzen Zeug gemacht?«, ließ sich Boindil zu einer Bemerkung hinreißen. »Ist ein Volk gezwungen, seine künstlerische Begabung in stets gleich bleibender Form zum Ausdruck zu bringen?«, gab Tiwalün zurück. »Da wir bislang keine oder wenig Besucher in unseren Wäldern hatten, wurden die wechselnden Vorlieben in unserer Kunst nicht bemerkt. Und es sei Euch versichert, Boindil Zweiklinge, wir haben schon viele Dinge ausprobiert. Ähnlich wie bei Eurem Volk bedeuten uns ein- oder zweihundert Zyklen nicht viel.«
Er bog nach links und versuchte, sie aus der Halle der Bäume zu lotsen, da deutete der Ingrimmsch auf einen weißen, dreikantigen Monolithen, der an der Stelle aufragte, an dem sich damals der Thron Liütails befunden hatte. Aus dieser Entfernung geschätzt, betrug seine Höhe gewiss fünfzehn Schritte und der Umfang sieben Schritte. »Kann ich das näher betrachten, Freund Elb?«
»Das ist kaum von Bedeutung«, spielte Tiwalün die Bedeutung der Entdeckung herunter. »Das Mahl wartet...« Boindil hatte Tungdils Mahnung, sich tagsüber den Anweisungen der Gastgeber zum Schein zu fügen, nicht in Erinnerung behalten. Unerschrocken marschierte er an Tiwalün vorbei und lief zu dem dreieckigen Monolithen. »Hier ist das Auge eines Steinkenners gefragt«, verkündete er. »Mein Stamm ist bekannt für seine herausragenden Steinmetzkünste.«
Der Elb setzte ihm nach und lief dann rückwärts vor ihm her. »Nein, Boindil Zweiklinge. Ich bitte Euch, von Eurem Vorhaben abzusehen. Es ist eine Art Heiligtum, das nur von Elben berührt werden darf.« Er blieb stehen und hoffte, den Zwerg damit aufzuhalten. »Eine Missachtung durch Euch darf ich nicht ohne Folgen lassen. Eigentlich hättet Ihr es nicht einmal ansehen dürfen!«
Ingrimmsch schaute an den Beinen des Elben entlang, über den Oberkörper hinauf bis zum Gesicht Tiwalüns. »Das ist sehr unhöflich!«, beschwerte er sich. »Eure Abordnung gelangt in jeden Winkel unseres Reiches, aber ich darf mir nicht einmal einen Stein anschauen?«
»Es ist ein Heiligtum, du hast es doch gehört, Boindil«, griff Tungdil rettend ein.
»Und warum hat er dann zuerst gesagt, es wäre kaum von Bedeutung?«
»Für Euch ist es kaum von Bedeutung«, lächelte Tiwalün. Ein Schweißtropfen rann von seiner Stirn über die glatte, faltenlose Haut, die gewiss in einhundert Zyklen noch straff und jugendlich sein würde. »Bitte, kehrt um.« »Elben und heilige Steine«, grinste der Krieger. »Unser Volk besitzt doch mehr Übereinstimmungen, als ich annahm. Sehen wir mal von den Vorlieben beim Essen ab.« Friedlich schwenkte er herum und zeigte auf den Durchgang, durch den Tiwalün vorher hatte gehen wollen. »Da lang?«
»Da lang«, sagte Tiwalün erleichtert und lief los, bevor es sich der störrische Zwerg noch anders überlegte. »Ich bedanke mich für Euer Verständnis, Boindil Zweiklinge.«
»Das ist doch selbstverständlich«, grinste Ingrimmsch breit und zwinkerte Tungdil zu.
Der späte Abend hielt eine Überraschung für Elben und Zwerge bereit.
Sie saßen zusammen mit Vilanoil und Tiwalün beim letzten Gang des üppigen, doch keinesfalls schweren Essens, als ein Bote eintrat und dem Elben einen Brief überreichte. Er las ihn und sah zu den beiden Zwergen. »Äußert beunruhigende Nachrichten«, sagte er sorgenvoll. »Drei der Diamanten wurden gestohlen, sowohl der von König Nate als auch der von König Ortger und König Malbalor. Die Rede ist von schrecklichen Kreaturen und Zwergen, welche die Überfälle begangen haben.« Er verlas die Zeilen, in denen die Begebenheiten in den drei Königreichen ausführlich niedergeschrieben waren. Die Gäste lauschten entsetzt; die Angriffe dieser Maschine im Roten Gebirge blieben nicht unerwähnt. »Das Böse hat wieder Fuß gefasst und reckt seine gierigen Klauen nach der Macht«, schloss Tiwalün.
»Wir reisen morgen früh ab«, sagte Tungdil aufgeregt. Unter diesen Umständen durfte sein Stein, den Gandogar ihm damals überlassen hatte und der in einem sicheren Versteck im Stollen verwahrt lag, nicht ohne Aufsicht bleiben. Er fürchtete um das Wohl seiner Gemahlin Balyndis, die von den Vorgängen sicherlich noch nichts gehört hatte. Wenn die unbekannten Räuber die Steine in den König- und Zwergenreichen aufspürten, gelang ihnen dieses Kunststück sicherlich auch in einem vergleichsweise einfach einzunehmenden Stollen. Die einzige und damit hoffnungslos unterlegene Soldatin war Balyndis. »Aber wir haben doch die Mission...«, versuchte Boindil zu widersprechen, bis ihm einfiel, dass sein Freund einen der Diamanten besaß. »Vergiss meine Worte, Gelehrter. Die Ponys werden uns schnell wie der Wind zu dir nach Hause tragen.«
Tungdil erhob sich vom Tisch. »Wir wollen nicht unhöflich sein, Tiwalün und Vilanoil. Wir begeben uns besser zur Ruhe. Die folgenden Umläufe werden hart für uns. Richtet Fürst Liütasil unsere allerherzlichsten Grüße aus. Ich nehme an, dass wir ihn bald bei der Versammlung der Herrscher treffen.«
Tiwalün wirkte zutiefst erleichtert, als er von dem Abreisevorhaben der Zwerge hörte. »Sicherlich. Er wird Verständnis für Euer Handeln haben. Ich lasse Euch Proviant richten, damit Ihr morgen aufbrechen könnt, sobald Ihr mögt.« Er stand ebenfalls auf und verneigte sich. »Ich hätte mir einen friedlicheren Ausklang für Euren Besuch in Älandur gewünscht, doch die Götter haben uns eine neue Prüfung gesandt.« Er lächelte. »Ihr werdet sicherlich wieder eine wichtige Rolle dabei spielen, oder was denkt Ihr?«