»Ich könnte darauf verzichten«, entgegnete Tungdil ehrlich. »Doch wenn mein Volk und das Geborgene Land mich benötigen, werde ich zur Stelle sein.« Er schritt zum Ausgang, Ingrimmsch nahm sich eine beladene Schüssel mit und folgte ihm.
Tiwalün und Vilanoil verfolgten die beiden mit Blicken, bis sich die Tür hinter ihnen schloss, dann langte Tiwalün nach dem Wein und goss sich ein Glas bis zum Rand voll. Er hatte die verborgenen Anweisungen im Brief lesen können; der Zwerg hatte ihn am Morgen im Zelt erst durch sein Sprechen bemerkt. Umso gelegener kam die schlechte Nachricht, welche die ungeliebten Gäste von selbst aus Älandur trieb.
Dass sie den Monolithen gesehen hatten, war ein gehöriger Fehler gewesen, und um ein Haar wäre es noch schlimmer gekommen.
Tiwalün hob den Kelch. »Sitalia, auf dein Wohl. Ich trinke dir und deinen reinsten Kreaturen zu Ehren.« Zeremonienhaft führte er den Rand an die Lippen, nippte dreimal daran und leerte den Rest auf die Erde. »Mögen die Eoil eines Tages zurückkehren und die Herrschaft übernehmen.«
Vilanoil lächelte.
Und doch tat sich etwas in dieser Nacht.
Boindil hatte es sich trotz seiner Müdigkeit nicht nehmen lassen, auf eigene Faust loszuziehen und sich den weißen Stein aus der Nähe zu betrachten, den Tiwalün vehement vor ihm abgeschirmt hatte. Da sie Älandur am folgenden Umlauf sowieso verlassen würden, konnte er es wagen, bei seiner heimlichen Untersuchung erwischt zu werden. Was sollte ihm dann noch geschehen? Sie würden ihm sicherlich nicht gleich den Kopf abschlagen. Weder beherrschte noch mochte er die Heimlichkeit, aber es ging nicht anders. Er hatte sogar die Stiefel mit den harten Sohlen ausgezogen und das Kettenhemd abgelegt. Vollkommen nackt, so fühlte er sich zumindest, pirschte er durch den Baumpalast, in dem sich niemand außer ihnen aufzuhalten schien. Zwar hatte er geglaubt, sich den Weg in die Halle gemerkt zu haben, doch nach einer Weile verlief er sich und streifte orientierungslos umher. Unter der Erde wäre ihm das sicherlich nicht passiert, dort fand er sich immer zurecht. »Verdammte Bäume. Einer sieht aus wie der andere«, grummelte er und bog beim nächsten Korridor nach links. Zunächst hatte er sich gefreut, keinem Elbenwächter zu begegnen, inzwischen machte ihn dieser Umstand stutzig. Es war immerhin eine der Residenzen des Fürsten, und sie sollte von Bediensteten wimmeln. Mutig öffnete er die nächstbeste Tür und sah in einen leeren Raum; Sternenlicht fiel in das verwaiste Zimmer, ein wenig Staub und ein paar Blätter hatten sich auf dem Boden angesammelt. Kein Bett, kein Schrank, keine Kleider, nichts.
Boindil schlich weiter durch den Palast und wiederholte sein Vorgehen. Nicht ein einziges Mal stieß er auf bewohnte Kammern. Der Palast war zu einem Geisterhort geworden.
Durch Zufall gelangte er in die große Halle, in welcher der weiße Monolith stand und sich herrschaftlich zur Decke reckte.
Obwohl kein Licht brannte, verbreitete der Stein Helligkeit, als habe er sie tagsüber gespeichert und gebe sie in der Dunkelheit ab.
»Da bist du ja, Steinchen«, grinste er. Er trat näher heran, umrundete ihn langsam und begutachtete ihn eindringlich. Es gab keine Fuge, nicht einmal einen winzigen Kratzer, jedenfalls nicht auf der Höhe des Steins, die der Zwerg betrachten konnte. Glatt wie Glas schimmerte die weiße Oberfläche, und Boindil reckte die Hand, um sie berühren.
Als seine Haut auf den Stein traf, wunderte er sich, wie warm sich der Monolith anfühlte. Demnach speicherte er nicht nur das Licht, sondern auch die Kraft der Sonne. Solche Steine kannte er nicht. Sicher, er war Krieger und nie ein besonders guter Steinmetz gewesen, aber er erinnerte sich nicht daran, dass ihm je dergleichen untergekommen wäre. Das bedeutete, dass es in Älandur Minen gab, die zumindest eine unbekannte Sorte Gestein bargen.
Boindil zog seine Hand zurück und wollte sich abwenden, da fiel sein Blick auf die Stelle, die er berührt hatte: Seine fünf Finger zeichneten sich als schwarze Abdrücke ab!
»Verfluchte Orkscheiße!«, ärgerte er sich und schaute auf seine Hand, die sauber war. Er wischte zuerst mit seinem schwarzen Bart, dann mit einem Taschentuch auf dem Stein herum, ohne die Spuren wegscheuern zu können. Anklagend befleckten sie die Makellosigkeit des Monolithen. Die geringe Größe der Abdrücke erlaubte keinen Zweifel daran, dass ausschließlich ein Zwerg der Schuldige gewesen sein konnte, der das Heiligtum entweiht hatte. Das würde mächtigen Ärger geben.
Tiwalüns Drohung, dass selbst das Herantreten für einen Nichtelben schwere Folgen haben würde, dröhnte plötzlich laut in Boindils Ohren. Ihm wurde heiß und kalt zugleich.
Er rannte zurück, rüttelte Tungdil aus dem Schlaf und packte seine Sachen. »Wir müssen auf der Stelle verschwinden«, raunte er gehetzt. »Hier stimmt was nicht.« Er schlüpfte in die Schuhe und in sein Kettenhemd. Müde richtete sich sein Freund auf. »Was ist denn?«
»Ich habe mir den Monolithen näher angeschaut, und dabei ist mir aufgefallen, dass in diesem Palast niemand zu leben scheint.
Sie haben ihn nur für uns zum Leben erweckt.« Rasch schilderte er seine Eindrücke von den leeren Zimmern. »Und der Stein ist nicht normal. Er wird fleckig, wenn man ihn berührt«, murmelte er leise. »Fleckig? Heißt das, du hast den Stein berührt?« Tungdil wurde hellwach. »Du hast Tiwalün genau gehört...« »Ja, ja, ich weiß, ein Heiligtum. Aber ich bin der Leiter der Mission, und wenn die Elben Geheimnisse vor uns haben, möchte ich ihnen auf den Grund gehen«, verteidigte er sich und verschränkte die Arme vor der breiten Brust.
Tungdil fluchte und stieg aus dem Bett. Die Elben hatten mindestens ein Geheimnis vor ihnen, und dieser weiße, dreieckige Stein schien ihnen viel zu bedeuten. »Komm. Vielleicht kann ich die Flecken wegwischen.« Vorsichtshalber packte auch er seine Ausrüstung zusammen, ehe sie sich aufmachten. Er nahm eine Schüssel Waschwasser und einen Lappen mit, dazu Seife und etwas von dem Duftwasser, das man ihnen hingestellt hatte. Mit ein wenig Glück ließ sich damit etwas ausrichten.
Im Baumpalast zeigte Boindil Tungdil die leerstehenden Räume, die sich der Gelehrte genauer besah. Er teilte die Meinung seines Freundes, dass lange Zeit niemand darin gelebt hatte.
Und die Merkwürdigkeiten häuften sich.
Während sie sich durch die Gänge bewegten, kam es ihnen vor, als verschöben sich die hölzernen Wände und wollten verhindern, dass sie den Weg zum Monolithen fanden. Die Korridore wandelten sich zu einem raschelnden Irrgarten, aus dem sie nicht mehr hinausfanden, bis Tungdil mit seinem Dolch winzige Kerben in die Wände schnitt, um Markierungen zu hinterlassen. Danach endete das Umherlaufen ohne Ziel, und sie fanden den Weg in die große Halle.
Die Abdrücke - so kam es Ingrimmsch vor - waren mittlerweile noch dunkler geworden und hatten sich wohl für die Unendlichkeit auf der Oberfläche eingebrannt. Nichts half dagegen, weder Wasser noch Seife, noch kräftiges Reiben oder die Behandlung mit Duftwasser. »Es sieht nicht gut aus«, sagte er und warf den Lappen in die Schüssel; Wasser schwappte über den Rand. »Der Stein ist beleidigt, weil ihn ein anderes Wesen als ein Elb angefasst hat«, schätzte er.
»Was meinst du: Beichten wir es Tiwalün, oder machen wir uns aus dem Staub?«
Er überlegte. Wären die Elben freundlicher und ehrlicher gewesen, hätte er ohne Zögern das Gespräch mit Tiwalün gesucht und um eine milde Bestrafung für Boindil gebeten; aber die Gastgeber benahmen sich äußerst merkwürdig. Außerdem musste er rasch zu seinem Diamanten. Eile war geboten.
Er tauchte die Seife ins Wasser und rieb sie zwischen den Händen, bis sich ein dicker, fester Schaum gebildet hatte. Vorsichtig schabte er die weiche, obere Schicht des Seifenstückes mit seiner Dolchklinge ab und schmierte sie auf die dunklen Abdrücke.