»Da vorne!«, rief er zu Ingrimmsch und deutete auf den kleinen Pfad. »Dein Hintern hat bald ausgelitten.« Das große Tor rückte näher, hinter dem sich seine eigene, kleine Zwergenwelt verbarg. Tungdils Ziehvater hatte hier seine Zeit mit dem Erfinden neuer Zauber, dem Studieren alter Schriftrollen und dem Ausbilden seiner Famuli verbracht, bis er gegen den Verräter Nöd'onn angetreten war. Und verloren hatte.
Seitdem war er nicht mehr als eine Steinstatue, irgendwo in den Trümmern von Nudins Palast zu Porista. Magisch Begabte, die fähig genug gewesen wären, in seine Fußstapfen zu treten, gab es in diesen Zyklen ebenso wenig wie einen Ersatz für die versiegten magischen Felder. Das war zumindest die gängige Ansicht - bis zu der Kunde in Älandur über die rätselhaften Diamantenräuber mit den noch rätselhafteren Rüstungen. Jemand musste plötzlich Magie ins Spiel gebracht haben.
Tungdil hielt an, stieg ab und stand vor dem Tor. Er hob den Arm, um anzuklopfen, dann zögerte er. »Angst, Gelehrter?« Boindil glitt aus dem Sattel, hielt sich mit beiden Händen den Rücken und bog sich zurück. »Ich wusste ja, dass Elria uns ersäufen will, aber welche Göttin hat die Pferde und Ponys gegen uns geschaffen? Sie sind eine einzige Folter.«
Er klopfte ihm auf die Schulter. »Nur Mut. Du kehrst als der Tungdil Goldhand zu ihr zurück, den sie weit lieber als den anderen hatte, den ich vor einigen Umläufen im Grauen Gebirge vor mir stehen sah.« Er schlug mit dem Stiel des Krähenschnabels dreimal hart gegen das Holz.
»Was einzig dein Verdienst ist«, bedankte sich Tungdil nochmals. »Hättest du mir nicht ins Gewissen geredet...« Auf der anderen Seite des Torflügels erklangen reibende Geräusche; Riegel und Bolzen wurden zurückgeschoben, dann öffnete sich der Eingang für sie.
Eine Überraschung erwartete sie.
Auf der Schwelle stand eine Zwergin mit langen dunkelblonden Haaren, die unter ihrem eindrucksvollen Helm hervorragten. Über dem schwarzen Ledergewand trug sie ein plattenverstärktes Kettenhemd und einen rockähnlichen, gepanzerten Schutz, der bis zu den Knöcheln reichte; die Schuhspitzen waren mit Metallplättchen verstärkt worden.
In der Rechten hielt sie einen Schild, in der Linken eine Art Morgenstern. Anstelle der großen, dornenbesetzten Kugeln waren drei kleinere Eisenbälle angebracht, um die sich kranzfömig aufgesetzte Klingen zogen. Aus Gewicht, Schwung und Klingen erwuchs sicherlich eine furchtbare Wirkung.
Und es war nicht Balyndis, welche die Waffe führte.
Dennoch glaubte Tungdil die Zwergin zu kennen. »Sanda?«, entschlüpfte es ihm ungläubig. »Sanda Feuermut?« »Bei Vraccas! Die Toten sind lebendig geworden«, raunte Ingrimmsch und packte seine Waffe. Die Zwergin lächelte und hakte den Morgenstern an ihr Wehrgehänge. »Ihr seid Tungdil Goldhand und Boindil Zweiklinge. Eure Bemerkungen haben keinen Zweifel daran gelassen.« Sie deutete eine Verbeugung an. »Es ist mir eine Ehre, euch beide kennen zu lernen.«
Tungdil trat näher. »Du besitzt den Vorteil zu wissen, wer wir sind.« Jetzt erkannte er, dass sie Sanda Feuermut, der einstigen Gemahlin von König Gemmil, zwar glich, ihr Gesicht aber um vieles jünger war. Ihr heller Bartflaum hatte sich noch nicht silbern gefärbt, und wenn sie mehr als vierzig Zyklen alt war, hätte er noch zu ihren Gunsten geschätzt. Ein halbes Kind, dennoch breit und groß wie ein Krieger. Die Abstammung vom Stamm der Dritten ließ sich nicht verbergen. »Doch wer bist du?« Sie nahm den Helm ab und zeigte ihnen ihr freundliches, nicht ganz so rundliches Gesicht. »Ich bin Goda Feuermut aus dem Clan der Stetemut vom Stamm der Dritten.« Ihre braunen Augen richteten sich auf Boindil. »Sanda Feuermut, die durch deine Hand starb, war meine Urgroßmuhme.« Ingrimmschs Gesicht wurde weiß, was durch seinen schwarzen Bart noch stärker betont wurde. »Ich will Wiedergutmachung«, verlangte sie hart. »Denn du...«
»Wo ist Balyndis, und wie bist du hereingekommen?«, unterbrach Tungdil, der es sehr merkwürdig fand, dass sich seine Gefährtin nicht zeigte. Er fürchtete, dass Goda ihr aus Zorn etwas angetan haben könnte. »Sie hat sich hingelegt und schläft«, bekam er zur Antwort. »In den letzten Umläufen hat sie sich nicht besonders gut gefühlt.« Goda betrachtete wieder Ingrimmsch. »Wie ich bereits sagte: Ich verlange Wiedergutmachung von dir, Boindil Zweiklinge.«
Ingrimmsch musterte sie. Jetzt sah er es nicht mehr als einen Zufall an, dass sie auf Bramdal gestoßen waren. Das Zusammentreffen hatte sie warnen wollen. »Ich verstehe deinen Wunsch. Ich kämpfe jedoch nicht mit dir, Goda. Du bist zu jung und zu unerfahren, um gegen mich bestehen zu können. Lass deinen Clan einen anderen Krieger senden, oder geh und lerne, und kehre in fünfzig Zyklen wieder. Dann stehe ich dir für deine Rache zur Verfügung, wenn Vraccas keine anderen Pläne mit mir hat und das Feuer meiner Lebensesse lodern lässt.« Die Zwergin fasste ihre langen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und band eine Lederschnur darum; dabei zuckten ihre Armmuskeln unter dem Kettenhemd. Energisch schüttelte sie den Kopf. »Es gibt sonst keinen mehr aus unserem Clan.« Sie sah durchaus wie eine Kriegerin aus. »Ich bestehe darauf.«
»Nein, bei Vraccas! Ich bringe keine Kinder um!«
»Willst du es mir verwehren? So ziehe ich durch das Land, von Zwergenreich zu Zwergenreich, und verkünde überall, dass sich Boindil Zweiklinge seiner Pflicht entzog«, reizte sie ihn. »Dein Ansehen wird bald nichts mehr wert sein, du wirst Schande über dich und deinen toten Bruder bringen. Man wird auf dich und deinen Clan speien. Und auf deinen Bruder, den Helden.«
Urplötzlich flammte es auf, das alte Feuer im Blut des Zwergs. Die Augen zeigten das irre Funkeln, das seit fünf Zyklen erloschen war. Er machte zwei schnelle Schritte vorwärts und packte Goda beim Kragen des ledernen Untergewands.
»Nicht, Boindil!«, warnte ihn Tungdil.
»Du wirst deine Wiedergutmachung bekommen«, knurrte er Goda wütend an, die ihn mit Triumph und Sorge in den Augen anschaute. »Gleich hier?«
»Gleich hier«, nickte sie zufrieden. »Wie ich es verlange?«
»Ja.«
»Schwöre es bei Vraccas und deinem toten Bruder.«
Ingrimmsch ließ sie los, ging rückwärts und hob den Krähenschnabel. »Ich schwöre es bei Vraccas und Boendal«, grollte er, bevor sein Freund ihn davor bewahren konnte. »Du bist an dem, was gleich geschieht, selbst schuld.«
Goda nickte erneut. »Du hast mir meine Urgroßmuhme genommen, die in der Verbannung bei den Freien leben musste, und damit meine letzte lebende Verwandte getötet.« Sie zog ihre Waffe. »Damit ist die Pflicht an dir, mich auszubilden.« Sie verneigte sich vor ihm.
Boindil hatte einen Angriff erwartet. Es dauerte, bis er begriff, was sie von ihm verlangte. »Ausbilden? In was denn, bei Vraccas? Kind, ich dachte...«
»Ich habe Wiedergutmachung gefordert, und du hast sie mir gewährt.«
»Das ist deine Wiedergutmachung?«, brach es aus ihm hervor. »Ich kann das nicht! Wieso soll ich...« »Eine großartige Kriegerin ist durch dich in die Ewige Schmiede eingefahren. Du hast mir die Möglichkeit genommen, ihr Erbe anzutreten, also ist es nur rechtens, wenn derjenige, der Sanda bezwang, mich nun unterweist.« Goda blieb stur. »Ich nehme dich bei deinem Schwur.« Sie ging auf ihn zu und hielt ihm ihre Waffe hin. »Wir nennen sie Nachtstern, und ich beherrsche sie recht gut. Was mir fehlt, ist ein erfahrener Lehrmeister, der mich auf die Tücken des Kampfes vorbereitet.«
Tungdil grinste Ingrimmsch an. »Nun siehst du, wie es mir damals mit Bavragor erging. Er hat mich ähnlich hereingelegt«, sagte er. »Wir sehen uns drinnen.« Er verschwand im Stollen, um Balyn dis zu suchen. Er wollte sie begrüßen, in die Arme schließen und sie mit seinem neuen, gepflegten Anblick überraschen. Für lange Gespräche mit Goda blieb den ganzen Abend noch Zeit.
Boindil betrachtete die Zwergin und fühlte sich hilflos. Es stimmte, er hatte einen Schwur geleistet. »Gut«, seufzte er. »Ich zeige dir rasch ein paar...«