Viele Schritte kamen den Gang entlanggelaufen, und im Schein von Fackeln tauchte eine Abteilung Krieger auf. »Ingbar! Sind die Grünhäute hier entlang gekommen?«, fragte ihn einer aufgeregt.
»Sie sind hier heraufgekommen, aber ob sie...« Er schaute nach dem Förderkorb. Er war weg! »Doch... Seht, sie sind auf dem Weg nach unten!«
Grimmig sah ihn der Krieger an und half ihm auf die Füße. »Dann hol sie wieder hoch.«
Ingbar humpelte zum Förderwerk, verstellte ein paar Zahnräder und musste die Zusatzgewichte wieder einklinken. Die Orks hatten auf ihrem Streifzug durch das Braune Gebirge fette Beute gemacht, so wie sie sich überladen hatten. »Was ist geschehen?«
»Wir hatten gehofft, dass uns andere diese Frage beantworten können«, erwiderte der Zwerg. Seine Begleiter stellten sich mit gespannten Armbrüsten im Halbkreis vor dem Schacht auf, um die Feinde mit einem Bolzenhagel zu überschütten. »Die Orks sind wie aus dem Nichts aufgetaucht, haben unsere Wachen überrumpelt und den Diamanten gestohlen.«
»Den Diamanten?«, fragte Ingbar entsetzt. »Was haben die Scheusale damit vor?«
Einer seiner Krieger blickte in die Tiefe. »Noch zwanzig Schritte, dann sind sie oben«, meldete er und reihte sich ein.
»Wir wissen es nicht. Ist dir etwas Ungewöhnliches an ihnen aufgefallen?«, fragte der Zwerg. »Nein, nicht...« Ingbar zögerte. »Doch! Einer von ihnen hatte rosafarbene Augen.« Er gab einen kurzen Bericht von dem, was ihm geschehen war. »Und als ich zu mir kam, seid ihr erschienen.« Er verstummte, als der Korb auftauchte. Die Tür blieb verschlossen; anscheinend wagten sich die Orks nicht heraus.
»Stellt euch, ihr Feiglinge!«, rief der Krieger. »Ihr könnt nicht entkommen.« Weil sich nichts tat, schickte er einen seiner Männer vor, um die Eisentür aufzuschieben.
Da erkannte Ingbar, was ihn gestört hatte: Der Korb war zu schwer! Was immer sich darin befand, es konnten nicht die Orks sein, denn sie waren vorhin mit den herkömmlichen vierzig Zentnern nach oben gezogen worden. Jetzt hatte er aber vierzig Zentner und die zusätzlichen Gewichte des Förderwerkes in Betrieb. Kein Diamant im Geborgenen Land war so schwer.
Der ausgesandte Krieger erreichte die Tür des Korbes. Er löste die Sperre und schob die Tür einen Spalt zur Seite.
Durch die Lücke schnellte ein stählerner Greifer und drückte die Tür ganz auf. Zischend quoll eine heiße Dampfwolke aus dem Korb und hüllte die überraschten Zwerge ein. Sie rangen nach Luft, der glühend feuchte Dunst schmerzte in den Lungen und in den Augen; schlagartig bildeten sich Wassertropfen auf den Rüstungen. Es klickte und ratterte, dann durchschnitten ungezielte Armbrustbolzen die Luft und trafen mehr durch Zufall etliche der Zwerge. Tot oder verletzt fielen sie auf den Steinboden.
»Zurück!«, rief Ingbar. Er wusste, was sich da hatte nach oben transportieren lassen. Inzwischen kannte jedes Zwergenreich die Warnungen vor den Tod bringenden Maschinen, die in den Stollen Jagd auf die Kinder des Schmieds machten. Es waren viele Maschinen, mehr als ein Dutzend, das galt als sicher. Und er wusste auch, dass es wenige Möglichkeiten gab, diese Maschinen zu besiegen.
Der Nebel lichtete sich, sodass er wenigstens seine nächste Umgebung erkannte. »Ich schicke es wieder zurück, bevor es den Korb verlassen kann«, hustete er in den Qualm. Er hängte die Gewichte von den Winden ab und streckte die Hand nach der Eisenstange aus, welche das entscheidende Zahnrad blockierte. Da schob sich ein monströser Schatten neben ihm aus dem Dunst. Eine eiserne Zange schnappte nach ihm und bekam seinen linken Arm zu packen.
Ingbar wurde wie eine Puppe angehoben und einmal gegen die Decke geschlagen. Er kam sich vor wie im Maul eines eisernen Drachen. Von oben erkannte er den Rücken der Maschine, der ebenso stark gepanzert aussah wie die Vorderseite. Die Zwerge drangen mutig auf die Maschine ein, doch sie walzte vorwärts, über die Verletzten und Leichen hinweg.
Er sah, wie die Stange unter das Zahnrad rutschte und zusammengepresst wurde. Das Förderwerk gab dem Gewicht des Korbes nach, weil es keinen Gegenballast besaß, und er rauschte den Schacht hinab. Schneller und immer schneller drehten sich die Winden, Zahnkränze und Räder, klirrend wickelten sich die Ketten ab. Dennoch war Ingbars Plan gescheitert: Die Maschine hatte den Korb längst verlassen. Der Greifer schüttelte ihn noch einmal, ein heißer Schmerz raste durch seine Schulter, dann wurde er achtlos davongeschleudert.
Die Maschine hatte gut gezielt. Ingbar flog geradewegs zwischen die schnurrenden Winden, prallte von einer laufenden Kette ab und landete unter einem gewaltigen Zahnrad, das ihn mitsamt dem Kettenhemd zermalmte.
Das Geborgene Land, Königreich Gauragar, Porista 6241. Sonnenzyklus, Frühsommer.
Prinz Mallen saß in seinem Zimmer im obersten Stock des Hauses, das man ihm und seinen Begleitern als Unterkunft zugedacht hatte. Durch das Fenster beobachtete er, wie sich die Kräne an der Baustelle des neuen Palastes unentwegt drehten, hievten, hoben und abluden. Ohne Unterbrechung rollten die Wagen mit den Steinen durch die Straßen, das Heer der Tagelöhner wuchs von Umlauf zu Umlauf. Der Wind trug Mallen die Geräusche des Neuanfangs zu: Klappern, Rattern, Sägen, Hämmern und Gesang, zwischendurch laute Rufe der Arbeiter. König Bruron verschwendete keine Zeit. Der freie Platz inmitten von Porista sollte bald wieder von einem prächtigen Bauwerk ausgefüllt sein, das die Opulenz von Nudins Anwesen übertraf. Fünf Türme und drei treppenförmig angeordnete Schlösser, die durch kleinere Quergebäude miteinander verbunden wurden, waren vorgesehen. Fünf Zyklen hatten die Baumeister veranschlagt, und der Grundstein lag bereits. Mallen erhob sich und sah die Mastspitzen des riesigen Zeltes aus weißem Segeltuch, das sich im Zentrum der leeren Fläche erhob und in dem sich die Königinnen und Könige an diesem Nachmittag trafen. Bruron wollte, dass sich die Mächtigen dort versammelten, wo einst die größte Macht des Geborgenen Landes ihren Ursprung gehabt hatte. Anstelle der magischen Quelle gab es nun die Einheit der Herrschenden, das war das Zeichen an die Völker.
Mallen wählte einen leichten Mantel, den er über sein hellrotes Gewand warf, und schritt zur Tür hinaus. Die wartende Leibgarde gesellte sich zu ihm, und auf dem Rücken seines Pferdes ging es bald darauf durch die belebten Straßen der Stadt. Die Menschen hielten Abstand zu ihm. Man achtete die fremden Herrscher und sah es als große Ehre an, sie beherbergen zu dürfen.
Der Prinz schwieg und reagierte nicht auf die gelegentlichen Hochrufe. Er beschäftigte sich wie so oft mit dem Überfall in Güldengarb; ihm fehlte sein vertrauter Mitstreiter Alvaro, dessen Leichnam er genauestens untersucht hatte. Es war ein Schnitt durch den Hals gewesen, der dem Mann das Leben geraubt hatte, und der Schnitt war ihm nicht durch dieses furchtbare Wesen zugefügt worden. Das glaubte er fest. Seitdem wandte er Rejalin und keinem Elben mehr den Rücken zu. Die Sache mit der elbischen Rune hatte er in seinen Beschreibungen, die an die anderen Königinnen und Könige gegangen waren, bislang verschwiegen. Er wusste nicht, weshalb. Erst wollte er Liütasil unter vier Augen darauf ansprechen.