Es kam ihm wie gestern vor, als er zusammen mit seinem Freund Boindil und seiner heutigen Gefährtin Balyndis an der Spitze von zwanzig Kriegern die Erkundung übernommen hatte. Damals waren sie durch ein Trümmerfeld mit alten Ruinen und bemoosten Steinen gelaufen. Das Meiste, was die Fünften einst an Befestigungen geschaffen hatten, war zerstört gewesen.
An diesem Tag bot sich ihm ein gänzlich anderer Anblick, welcher das Herz eines jeden Kinds des Schmiedes vor Stolz zum Glühen brachte.
An der Stelle, die er nun auf seinem Pony passierte, hatte sich das Loch befunden, in dem sie Teile von Ushnotzs Orkheer ersäuft hatten. Nun war es verfüllt und mit Platten aus schwarzem Marmor abgedeckt worden; Inschriften aus Gold und Vraccasium erin nerten an den glorreichen Kampf und ehrten die gefallenen Zwerge. Ein jeder von ihnen war zum Held geworden und lebte in den Liedern über diese Schlacht fort.
Es gab nicht den leisesten Hinweis auf die verwitterten Ruinen, durch die Tungdil sich einst gepirscht hatte. Jeder der alten Steine war abgeräumt und an einen neuen Platz gesetzt worden. Quader aus hellem Granit und dunklem Basalt fügten sich zu einer zwanzig Schritt hohen, fugenlosen Ringmauer, die wie ein schützender Arm gestaltet war, der sich vor den eigentlichen Durchlass legte.
Drei Türme aus schwarzem Basalt erhoben sich daraus, von deren Plattformen aus die Zwerge über den geschwungenen Steilweg und bestimmt mehr als einhundert Meilen weit in das Königreich Gauragar blickten. Das Banner der Fünften - eine geschlossene Kette aus Vraccasium als Zeichen für die Goldschmiede und die Einigkeit des Stammes - wehte an den Fahnenmasten und verkündete weithin, wer die Wacht hielt. Tungdil spürte, dass Feuchtigkeit sein Gesicht benetzte. Er drehte den Kopf und schaute zu dem nahen Wasserfall, der toste und donnerte wie vor fünf Zyklen. Die weißen Kaskaden mit ihren Wolken aus feinem Dunst schillerten und glänzten in der Frühlingssonne, als wären sie aus Kristall. Alles zusammen ergab einen überwältigenden Eindruck.
Spitzohr schnaubte, hielt vor dem Tor der einschüchternden und zugleich prachtvollen Festung an und suchte nach Gräsern, fand auf dem blanken Fels jedoch nichts, was ihm zusagte. Sein rechter Vorderhuf scharrte ungeduldig.
»Ich weiß, du bist hungrig. Wir werden sicher gleich eingelassen.« Tungdil erhielt vorerst keine weitere Gelegenheit mehr, die prachtvollen Bauten, die von der vollendeten Steinmetzkunst des Stammes der Zweiten zeugten, ausgiebiger zu betrachten.
Die Flügel des haushohen Portals öffneten sich gemächlich. Eisenplatten auf seiner Außenseite boten noch mehr Schutz vor Rammböcken und anderen Belagerungsmaschinen.
Aus dem Eingang schritt ein Zwerg, dessen Helm diamanten funkelte und blitzte. Tungdil wusste, wer einen solchen aufwändigen Kopfschutz trug. Großkönig König Gandogar Silberbart aus dem Clan der Silberbärte vom Stamm des Vierten höchstselbst empfing ihn und eilte ihm mit großen Schritten entgegen.
»Großkönig Gandogar«, grüßte ihn Tungdil. Er ließ sich auf ein Knie herab und langte nach der Axt Feuerklinge, um sie ihm entgegenzurecken und den Gruß der Zwerge zu entbieten. Es war die stumme Erneuerung des Schwurs, das eigene Leben für das Wohl der Zwerge und des Geborgenen Landes zu geben. Gandogar verhinderte es mit einer raschen Geste. Stattdessen streckte er ihm die Hand entgegen. »Nein, Tungdil Goldhand, du sollst nicht vor mir knien. Schlag ein, und es ist gut. Du bist der größte Held unseres Volkes. Deine Verdienste sind unermesslich. Ich sollte mich...«
Tungdil erhob sich, ergriff die ihm dargebotene Hand und unterbrach so den Lobgesang des Großkönigs. Sein von Rostflecken übersätes Kettenhemd knirschte bei der Bewegung.
Gandogar verbarg seinen Schrecken, so gut es ging. Tungdil sah alt aus, älter als er in Wirklichkeit war. Die braunen Augen schauten stumpf umher, als habe die Einfalt hinter ihnen Einzug gehalten. Sein Gesicht wirkte aufgedunsen, der braune Bart und die Haare hingen ungepflegt, teilweise verfilzt herab. Es konnte nicht ausschließlich von der langen Reise herrühren. »Ich sollte mich vor dir verbeugen«, führte er seinen Satz zu Ende.
»Lobe mich nicht zu sehr«, lächelte Tungdil. »Du machst mich verlegen.« Sie schüttelten sich die Hände. Aus den Rivalen von einst waren Vertraute geworden.
»Gehen wir hinein, damit du mit deinen eigenen Augen sehen kannst, was die Besten aus den Stämmen der Ersten, Zweiten und Vierten geleistet haben.« Gandogar hoffte, dass er sein Entsetzen nicht zu offensichtlich gezeigt hatte, und deutete einladend auf den Durchgang. »Nach dir, Tungdil.«
»Was ist mit den Dritten, Großkönig? Was ist deren Beitrag?«, fragte Tungdil, während er die Zügel seines Ponys nahm und es hinter sich her führte.
»Außer deinem, der dies alles erst ermöglichte?«, gab Gandogar zurück. Es fiel ihm nicht leicht, in dem verwahrlosten Tungdil den Zwerg von vor fünf Zyklen zu sehen. Wenn ein Kind des Schmieds sein Kettenhemd rosten ließ, war das ein übles Zeichen. Nun, es würde sich gewiss eine Gelegenheit ergeben, ihn darauf anzusprechen. Doch nicht jetzt. Er nahm den Helm ab, unter dem sein langes, dunkelbraunes Haare zum Vorschein kam. »Die Dritten tun, was sie am besten können: Sie bilden uns im Kämpfen aus. Und sie sind unglaublich gut darin.« Er lächelte. »Komm. Wir haben eine Überraschung für dich.«
Sie schritten durch das Tor.
Auf der anderen Seite erwartete Tungdil ein bewegender Empfang. Zwerginnen und Zwerge jeden Alters säumten den Weg bis zum Eingang in den Berg. Er blickte in fröhliche, lachende Gesichter. Sie freuten sich über seinen Besuch, bejubelten ihn, klatschten. Musikanten standen verteilt auf dem Pfad, auf den Türmen und Mauern. Ihm zu Ehren ertönten Krummhörner und Flöten, den Takt zu der Weise schlugen Zwerge gegen ihre Schilde. Es herrschte eine unfassbare Begeisterung, die einzig ihm galt und ihn wie flüssiges Gold umschmeichelte.
»Es hat sich schnell herumgesprochen, dass du uns besuchst«, meinte Gandogar grinsend. Er freute sich über die gelungene Überrumpelung. »Sie hatten Sehnsucht nach dem größten Helden des Zwergenvolkes.« »Bei Vraccas!« Tungdil spürte die Rührung als Trockenheit und leichten Druck in seiner Kehle. »Man könnte meinen, ich kehrte aus einer siegreichen Schlacht zurück.« Seine Augen schweiften über die freudigen Gesichter der Männer, Frauen und Kinder, die es sich nicht hatten nehmen lassen, ihm ein herzliches Willkommen zu bereiten. Und das, obwohl er fünf Zyklen abgeschieden im Stollen seines Ziehvaters gelebt hatte. Andererseits bedeuteten fünf Zyklen für einen Zwerg nicht die Welt.
Er winkte ihnen zu, während er an der Seite des Großkönigs durch das Spalier schritt. »Danke«, rief er froh. »Danke euch allen!«
Der Beifall schwoll an, sie riefen seinen Namen.
Dabei hätte es leicht zu einem Spießrutenlauf werden können. Denn seine Gemahlin Balyndis war einst die Gattin Glaimbar Scharfklinges aus dem Clan der Eisendrücker vom Stamm Borengars gewesen. Und dieser war nunmehr kein Geringerer als König der Fünften.
Ihm zu begegnen, stellte die größte Herausforderung seines Besuchs dar. Die Bewohner des Grauen Gebirges sahen es ihm offenkundig nach, dass er und Balyndis zusammengefunden hatten, aber mussten es gleich dermaßen viele sein? Er lächelte ihnen tapfer zu und atmete auf, als sie in den riesigen Gang eintraten, der ins Innere des Massivs führte.