Gandogar blieb am Eingang stehen; er bemerkte, dass Tungdils Freude inmitten des heiteren Trubels nicht ungetrübt war. »Wie fühlst du dich?«
Der Zwerg antwortete nicht sofort. »Seltsam. Einerseits singt mein Herz wie klingendes Eisen auf dem Amboss unter dem Hammer eines Schmieds. Andererseits...« Er brach ab, schwieg nachdenklich und räusperte sich. »Ich schätze, ich bin es nicht mehr gewohnt, so viele Zwerge um mich zu haben, Gandogar.« Er lächelte entschuldigend, hob die Hand und winkte. »Gewöhnlich ist es nur eine Zwergin.«
»Ich verstehe dich. Zum Teil«, räumte Gandogar ein. »Wie du abseits jeglicher Gemeinschaft leben kannst, ist mir ein Rätsel. Viele fremde Gesichter um sich zu haben, kann einem schon Angst machen.« Er zwinkerte. »Ich weiß, wovon ich spreche. Der Clan meiner Gemahlin ist riesig. Ich fürchte mich vor ihren Familienfeiern.« Tungdil lachte. Währenddessen nahm einer der Zwerge die Zügel seines getreuen Ponys entgegen und versprach die sorgfältigste Pflege. Tungdil und der Großkönig gingen weiter durch die Korridore, Gänge und Kammern; die Musik und die Rufe der Zwergenmenge wurden leise und leiser.
Tungil erinnerte sich... Hier hatten er und seine Freunde damals nichts als Staub und Unrat vorgefunden. Nach der Vernichtung des Stammes der Fünften hatten die Scheusale des Gottes Tion hunderte von Sonnenzyklen in den Bergen geherrscht.
Damit war es nun vorbei. Die Abordnung aus allen Zwergenstämmen war eingetroffen und hatte nach dem Sieg neues Leben gebracht. Das Graue Gebirge pulsierte, Tungdil hörte das helle Lachen von Kinderstimmen. Der Klang schmerzte ihn.
»Wir haben uns nicht darauf beschränkt, die Schäden am Gestein und in den unzähligen Kammern auszubessern«, hörte er eine männliche Stimme aus einem Nebengang. Ein Zwerg trat samt seinem Gefolge heraus. »Wir haben neue Hallen geschaffen. Neue Hallen für den Nachwuchs, der hier das Licht der aufgehenden Sonne über der Drachenzunge, der Großen Klinge und den anderen Gipfeln erblickt.« Tungdil wusste die eindrucksvolle Erscheinung und die Stimme sofort einzuordnen; er hatte sich gewünscht, erst später auf den Zwerg zu treffen. »Ich grüße dich, König Glaimbar Scharfklinge«, sagte er und verbeugte sich leicht. Überrascht stellte er fest, dass hinter dem Herrscher eine Zwergin in einem bestickten braunen Gewand stand, die ein Neugeborenes auf dem Arm hielt. »Darf ich dir zu deinem Spross gratulieren?« Glaimbar, größer und kräftiger gewachsen als Gandogar, strich sich über den dichten schwarzen Bart. »Meinen Dank, Tungdil Goldhand, und willkommen in meinem Königreich.« Er deutete auf das Kind. »Das sind die wahren Fünften. Wir anderen achten darauf, dass ihnen niemand ihr Reich streitig macht, bis sie es selbst verteidigen können.« Er streckte die Hand aus; die Metallplättchen seiner aufwändigen Rüstung rieben aneinander. »Ich sehe die Sorge in deinem Gesicht, Tungdil. Es sei vergessen, was in der Vergangenheit geschah. Mein Herz hat eine andere gefunden, und ich hege keinen Groll. Weder gegen dich noch gegen Balyndis. Richte es ihr aus, sobald du zu ihr zurückkehrst.«
Trotz der zahlreichen Abenteuer, die er in seinem kurzen Leben bestritten hatte, und der vielen glücklichen Ausgänge aus gefährlichen Lagen hatte sich Tungdil selten so erleichtert gefühlt wie jetzt. Er umfasste die Finger des Königs mit beiden Händen und schüttelte sie wild, dass Gandogar ihn bremsen musste. »Halt, halt, mein Freund. Glaimbar benötigt seinen Arm noch«, lachte er gutmütig. Er wusste um die Vorgeschichte der beiden.
Ein rascher Blick in Glaimbars Gesicht zeigte Gandogar, dass der König der Vierten sich ebenfalls über den ungepflegten Tungdil wunderte. So sah kein Held aus. Auch wenn er lange zurückgezogen gelebt hatte. »Leider brauche ich meine Arme nicht mehr zum Kämpfen«, setzte Glaimbar nach einigen Augenblicken des Schweigens hinzu. »Es ist ruhig geworden am Nordpass.«
»Sei froh, König Glaimbar«, sagte Tungdil. Er fühlte sich wie von tonnenschweren Bleigewichten erlöst. Nach dem mehr als freundlichen Empfang die verzeihenden Worte des einstigen Rivalen zu vernehmen, befreite ihn zumindest von zwei seiner Sorgen. Dennoch mahnte er sich, nicht zu vertrauensselig zu sein. Ohne entsprechende Taten, welche die Worte der Versöhnung belegten, würde er vorerst wachsam bleiben. »Deine Arme werden sicherlich bald müde vom Kinderschaukeln.« »Kommt. Ich führe euch herum und zeige euch die Schönheiten eines erblühenden Zwergenreiches.« Gandogar, Gla'imbar und Tungdil schritten nebeneinander her und erkundeten die Feste.
Ein jeder Stamm hatte sich durch seine vollendete Handwerkskunst verewigt. Die Steinmetzen der Zweiten lieferten makellose Ausbesserungsarbeiten und gruben neue Unterkünfte, Säle, Säulen, Brücken und Treppen aus dem Stein, die von solcher Genauigkeit waren, dass man nur staunen konnte.
Die Schmiede der Ersten krönten die Arbeiten mit Verstrebungen, Schmuckgittern, Gattern und Möbelstücken, Leuchtern und anderen Dingen, die aus Metall jeglicher Art bestanden.
Die Vierten erhoben die Kunst der anderen zur Vollendung, indem sie Edelsteine und Gemmen schliffen, die allerorten für das rechte Funkeln sorgten.
Zusammen mit den meisterhaften Wandbildern aus Gold, Vraccasium und anderen Edelmetallen des vernichteten Stammes der Fünften schufen die neuen Bewohner das mit Abstand prachtvollste aller Zwergenreiche. Es vereinte das Beste von allen in sich.
Gla'imbar labte sich an dem Staunen in den großen Augen seiner hochrangigen Gäste. »Ihr seht, das ganze Graue Gebirge ist zu einem einzigen Hort geworden. Und die außergewöhnlichen Krieger vom Stamm der Dritten lehren uns neue Kampfweisen, um unseren Reichtum und das Geborgene Land zu schützen«, schloss er ihren Rundgang ab und geleitete sie in die Versammlungshalle.
Tungdil erinnerte sich sehr genau an den ungewöhnlichen Raum, der ähnlich einem Theater aufgebaut war. Er besaß eine kreisrunde Grundfläche, die zwanzig Schritt im Durchmesser maß. Die Wände stiegen einen Schritt senkrecht nach oben an und verliefen dann im rechten Winkel etwa vier Schritte nach hinten, woraus sich ein breiter Sims ergab, ehe die Wände erneut senkrecht aufragten.
Hier hatte er Gla'imbar zum König vorgeschlagen. Hier hatte er seine Ansprüche aufgegeben. Wie wäre es gekommen, wenn ich König der Fünften geworden wäre?, fragte er sich, während er die leeren Ränge betrachtete. Besser oder schlechter?
Heute gab es keine Abstimmung. Stattdessen warteten die Clan anführer auf sie, um gemeinsam mit ihnen zu speisen. Sie saßen an einer langen Tafel im Mittelpunkt der untersten Ebene, auf der sich die Köstlichkeiten nach Rezepten aus allen Zwergenreichen türmten. Als die drei eintraten, verstummten die leisen Unterhaltungen, und die Anwesenden erhoben sich alle von ihren Stühlen. Die Knie wurden gebeugt, Waffen gezogen und empor gehalten, Häupter gesenkt. Es war das stumme Versprechen, Leib und Leben für den Großkönig zu geben.
»Erhebt euch und esst«, sagte Gandogar und ging zu seinem Platz am oberen Ende der langen Tafel. »Wir werden es uns schmecken lassen. Die Wanderung hat mich hungrig und sehr durstig gemacht. Wir reden später.« Tungdil setzte sich zu seiner Linken, Gla'imbar zu seiner Rechten. Das Mahl begann, Musikanten spielten dazu auf.
Tungdil freute sich und nahm sich von den Leckereien, die seinem Gaumen entgegenkamen: würziges Wurzelgelee, Ziegenfleisch, Kimpa-Pilze, Sauerkäse mit Kräutern und dampfende Klöße aus dem Mehl von Steinknollen. Das Mahl bedeutete eine außergewöhnliche Abwechslung zu seinem Essen im Stollen, denn zum einen beherrschten weder er noch Balyndis die hohe Kochkunst; zum anderen mochte er das Menschenessen, sie dagegen liebte es traditioneller. Die Kompromisse schmeckten meistens mäßig.
Er wischte sich die Finger am dreckigen Bart ab. In seiner Begeisterung für den Schmaus bemerkte er die entsetzten Mienen der Clanführer nicht. Sein heruntergekommener Anblick traf sie schwer. Gandogar reichte ihm einen Krug Bier. »Koste es. So etwas hast du bei dir nicht, oder?«