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Wolfgang, der kleine Sohn der Wickerts und ihr einziges Kind, war das erste von sieben Cholera-Opfern auf der ALBANY gewesen. Vermutlich trug die mangelhafte Verpflegung eine Mitschuld am Ausbrechen der tödlichen Krankheit. Deshalb konnte Jacob den Zorn der Wickerts auf Kapitän Haskin verstehen. Als sie sich aber zu Anführern einer Revolte gegen den Kapitän machten, hatte Jacob den betrunkenen Anton Wickert mit den Fäusten niedergestreckt.

Haskin und mehr noch sein Erster Steuermann Maxwell waren nicht zimperlich und hätten die Meuterei mit Waffengewalt niedergeschlagen. Davor wollte Jacob die Auswanderer bewahren. Mit Schaudern erinnerte er sich an den seltsamen Blick, den Wickerts Frau ihm zugeworfen hatte, als die Meuterer, durch Jacobs Eingreifen führerlos geworden, von ihrem Plan abließen. Er war sich nicht sicher gewesen, ob Dankbarkeit oder Haß in diesem Blick lag.

Die Wickerts hatten die kleine Gruppe jetzt erreicht und sahen etwas verlegen drein.

»Herr Adler, wir wollten uns bei Ihnen bedanken«, begann die blasse, ein wenig verhärmte Frau schließlich.

»Ja«, fügte ihr kantiger, untersetzter Mann hinzu. »Ich hätte auf dem Schiff fast eine ganz schöne Dummheit begangen und nicht nur mich und meine Frau, sondern auch andere Menschen in Gefahr gebracht. Danke, daß Sie mich davor bewahrt haben!«

»Schon gut«, winkte Jacob ab und fühlte sich etwas erleichtert. »Ich hoffe, es war nicht zu schmerzhaft für Sie, als ich Sie niederschlug.«

»Der Brummschädel, den ich am nächsten Tag vom Rum hatte, war schmerzhafter.«

Die Wickerts erzählten, daß sie bei einem Cousin von Frau Wickert untergekommen waren, der eine Fleischerei in der Stanton Street betrieb, ganz in der Nähe. Sie sollten in seinem Geschäft arbeiten.

Als sie hörten, daß Irene eine Stellung suchte, sagte Frau Wickert: »Das trifft sich aber. Mein Cousin ist seit einer Woche ohne Dienstmädchen, weil es geheiratet hat. Er sucht händeringend nach Ersatz. Sie haben doch Erfahrung in dem Beruf, Fräulein Sommer?«

»Ich habe jahrelang als Dienstmädchen gearbeitet.«

»Dann kommen Sie doch gleich mit uns, ehe Ihnen jemand anderes die Stelle wegschnappt.«

Irene sah ihren kleinen Sohn an. »Meinen Sie nicht, daß Ihr Cousin etwas dagegen hat, wenn ich Jacob-Martin mitbringe?«

»Ach was. Sie werden genug Zeit haben, sich um den Kleinen zu kümmern. Und wenn mal ein Engpaß entsteht, springe ich für Sie ein.«

»Ich kann die Stelle aber nur für eine bestimmte Zeit antreten. Bis mich mein Verlobter nach Oregon nachkommen läßt.«

»Mein Cousin wird froh sein, erst einmal jemanden zu haben. Zwar suchen viele junge Mädchen Arbeit, aber nicht jedem kann man vertrauen und in sein Haus lassen.«

So wurden sie sich einig, und Irene sollte gleich mitkommen, um sich Frau Wickerts Cousin vorzustellen.

Sosehr sich Jacob darüber freute, daß Irene so rasch eine Anstellung fand, so betrübt war er doch über die plötzliche Trennung. Er tröstete sich mit dem Gedanken, daß die Stanton Street die Christie Street kreuzte und daß es nur eines Spazierganges bedurfte, um Irene und den kleinen JacobMartin zu sehen.

Und doch konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, einen großen Verlust erlitten zu haben, als Irene mit den Wickerts davonging. Irene hatte das Kind auf dem Arm, und Anton Wickert trug ihr Gepäck. An der Ecke zur Stanton Street drehte sich Irene noch einmal um und winkte. Dann war sie verschwunden.

*

»Sie und Ihre Freunde können sich wirklich nicht beklagen, Jacob«, meinte Max Quidor. »Erst einen Tag in New York, und schon hat jeder von Ihnen einen guten Posten. Ich wette, es gibt eine Menge Leute von Ihrem Schiff, die es nicht so gut getroffen haben.«

»Ja«, seufzte Jacob. »So betrachtet, müssen wir uns wirklich freuen.«

Aber es wollte ihm nicht ganz gelingen.

Tom und Henry verschwanden in einem Anbau, während Jacob von Quidor durch den Haupteingang ins Golden Atlantic geführt wurde. Hier drinnen herrschte eine Pracht, die den jungen Deutschen fast blendete. So viel Glanz und Farbe hatte er bisher nur in der Elbstedter Villa des Bierkönigs Arning gesehen. Aber hier war alles noch größer, aufdringlicher.

Überall wurde emsig gearbeitet, um das Vergnügungslokal für die Betriebsamkeit des Abends vorzubereiten. Nur kurz sahen die Angestellten von ihrer Arbeit auf und grüßten ihren Boß.

Von der Decke hingen große Kristallüster über einem Salon mit den unterschiedlichsten Spieltischen. Daneben gab es einen Raum, der ganz dem Tanzvergnügen gewidmet war. Vor einer langen Theke gab es keine Stühle und Tische, sondern nur einen glänzenden Parkettboden.

»Ist das für Sie denn lukrativ?« fragte Jacob den Geschäftsmann.

»Wenn die Leute hier nur tanzen, wird doch kaum etwas verzehrt.«

Quidor grinste breit. »Wer hier tanzt, tut das mit meinen Girls. Bei denen kostet jeder Tanz zehn Cents. Das läppert sich.«

In einem weiteren Raum befand sich ein großes Restaurant, von dem ein Durchgang in einen Biergarten führte, gegen den der von Albert Mandel aussah wie ein Schrebergarten.

»Bei Ihnen findet man wirklich alles«, staunte Jacob.

»Warum sollte ich das Geschäft einem anderen überlassen?«

Sie kamen in einen Anbau und erstiegen eine breite Holztreppe ins Obergeschoß, wo Quidor Jacob sein Zimmer zeigte. Es war die luxuriöseste Unterkunft, die Jacob jemals bewohnt hatte, und fast doppelt so groß wie die Wohnstube der Adlers daheim in Elbstedt.

»Für meine Leute ist mir nur das Beste gut genug«, meinte Quidor, als er Jacobs Staunen bemerkte. »Besonders, wenn ich mir von einem Mann so viel verspreche wie von Ihnen. Kommen Sie jetzt mit, damit ich Ihnen Sam Rockwood vorstellen kann.«

Er führte Jacob wieder hinunter und in einen weiteren Anbau. Es war eine große Halle mit mehreren Reihen von Sitzbänken, die einen freien, mit Seilen abgesperrten Platz in der Mitte umringten. Zwei Männer mit nackten Oberkörpern tänzelten in dem Viereck umeinander und versuchten, den anderen mit Faustschlägen zu erwischen.

»Sam!« rief Quidor, als er mit Jacob auf den Ring zuging. »Hier habe ich den Mann, der morgen abend gegen Hodges antreten wird.«

Die beiden Männer im Ring unterbrachen ihr Training. Der muskelbepackte Jüngere sah Jacobs Begleiter entgeistert an. »Ich sollte doch gegen Hodges antreten, Mr. Quidor!«

»Sam ist nicht so recht zufrieden mit dir, Will. Bei der Sache steht zuviel Geld auf dem Spiel, als daß ich etwas riskieren könnte. Jacob übernimmt jetzt deinen Job. Trainier mit ihm, und guck dir etwas bei ihm ab!«

Der Ältere sah Quidor skeptisch aus seinem zerknautschten Gesicht mit der schiefen Nase an. »Hat der Junge denn Erfahrung im Boxen, Max?«

»Überhaupt keine.«

»Wie kommst du dann darauf, daß er Hodges schlagen könnte?«

»Ich habe ihn kämpfen sehen.«

»Gegen wen?«

»Gegen Joe O'Malley.«

»Gegen Hammer-Joe?«

Quidor nickte.

Sam Rockwood stieß einen Pfiff durch die Zähne, und auch Will sah Jacob jetzt mit anderen Augen an.

»Und der Junge da hat gewonnen?« fragte Sam.

»Leider kamen die Polypen dazwischen. Aber ich habe gesehen, wie er zwei von Joes Begleitern zu Boden geschickt hat, und das waren auch keine Betschwestern!«

»Also gut«, meinte Sam. »Ich will es mit dem Jungen versuchen.«

»Prima«, freute sich Quidor und wandte sich an Jacob. »Bei Sam sind Sie in guten Händen. Er wird einen hervorragenden Boxer aus Ihnen machen. Mich müßt ihr entschuldigen. Ich habe noch etwas zu erledigen.«

Er verließ den Boxsaal.

»Worauf wartest du, Junge?« fragte Sam. »Zieh Jacke und Hemd aus, und steig in den Ring. Mal schauen, was in dir steckt!«

*

Die Sonne verschwand irgendwo jenseits der Bowery hinter den hohen Häusern New Yorks, als Irene mit den Wickerts in östlicher Richtung durch die Stanton Street ging.