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Die Augen der jungen Frau glitten über die dunklen Hausfassaden, um sich ihre Wirklichkeit zu vergegenwärtigen. Alles ging plötzlich so schnell wie in einem Traum.

In den vielen Wochen auf See hatte sie oft das Gefühl gehabt, die Zeit stände still. Nichts schien sich zu verändern. Jeden Tag, wenn sie auf Deck stieg, war nur das unendliche Meer um sie und der mit dem Meer am Horizont verschmelzende Himmel.

Und heute hatte sie zum erstenmal das neue Land betreten, hatte Nachricht von Carl erhalten, eine Stelle gefunden und sich von Jacob getrennt. Alles innerhalb weniger Stunden.

Carl und Jacob. Seltsam, daß sie fast in einem Atemzug an beide Männer dachte. An Carl, den Vater ihres Kindes. Und an Jacob, der sich als Kindsvater ausgegeben hatte, um Irene davor zu bewahren, das Schiff verlassen zu müssen.

Sie konnte nicht anders, als die beiden Männer in Gedanken miteinander zu vergleichen. Obwohl Carl der Sohn eines reichen Reeders und Jacob nur der eines einfachen Handwerkers war, schnitt der hochgewachsene Zimmermann mit dem offenen Gesicht nicht schlecht dabei ab.

Aber es waren müßige Vergleiche. Nicht Jacob war der Vater des kleinen Wurms in ihren Armen, sondern Carl. Carl, der nach Oregon gezogen war, um sich und seiner Familie eine neue Heimat zu schaffen, nachdem er von seinem Vater verstoßen und enterbt worden war. Carl, der so viel für Irene und das Kind aufgegeben hatte.

Sie empfand Carl gegenüber Schuldgefühle, daß sie überhaupt an Jacob dachte. Jacob war ein guter Freund, wie auch Martin, nicht mehr.

Wirklich nicht? fragte eine leise Stimme ganz tief in ihr. Die junge Frau verdrängte die Antwort, weil sie sich vor ihr fürchtete.

Irene war so sehr in ihre Gedanken vertieft gewesen, daß sie erst nach einer Weile ihre Umgebung wahrnahm. Sie und die Wickerts befanden sich gar nicht mehr auf der Stanton Street, sondern durchschritten eine schmale Gasse, in der es schon ziemlich dunkel war. Es roch muffig hier, nach Abfällen und Unrat.

»Wo sind wir?« fragte sie das Ehepaar.

»Wir sind gleich da«, sagte der voranschreitende Anton Wickert.

»Ich dachte, die Fleischerei liegt an der Stanton Street.«

»Tut sie auch«, entgegnete die verhärmte Frau, die neben ihr ging. »Aber der Vordereingang ist um diese Zeit bereits geschlossen. Wir müssen über den Hinterhof gehen.«

Irgend etwas stimmte nicht. Irene war alarmiert. Sie waren bereits ein ganzes Stück in die schmale Gasse eingedrungen. Wie groß waren denn die Fleischerei oder der Hinterhof, wenn sie immer noch nicht da waren?

Irene blieb stehen.

»Was ist denn?« fragte Frau Wickert ein wenig ungehalten.

»Ich gehe nicht mehr weiter. Es ist zu dunkel, und ich kenne mich hier nicht aus.«

»Aber wir sind doch bei dir, Kind«, sagte die blasse Frau in einem beruhigenden Tonfall. »Glaub uns, wir kennen den Weg.«

»Nein, ich möchte zurück zur Stanton Street. Ich kann ja am Vordereingang warten, bis Sie Ihrem Cousin Bescheid gegeben haben und er mir öffnet.«

Frau Wickert sah erst Irene und dann ihren Mann kopfschüttelnd an. »Was sagst du zu dem Mädchen, Anton? Wir bieten ihr eine gute Stelle, und sie macht plötzlich Zicken. Ist das nicht undankbar?« »Das ist es, Elsbeth«, bestätigte der Mann ungehalten. »Jetzt kommt endlich weiter!«

»Nein!« beharrte Irene und drückte ihren kleinen Sohn fester an sich.

Jacob-Martin schien mitzubekommen, daß etwas nicht in Ordnung war. Er wurde unruhig und weinte leise. Irene wiegte ihn sanft in ihren Armen.

»Du machst dem Kind angst«, befand Frau Wickert und streckte ihre Arme nach Irene aus. »Gib es mir!«

Irene wich zwei Schritte zurück. »Jacob-Martin bleibt bei mir!«

»Wie du willst, Kindchen«, sagte die Frau, folgte ihr langsam und nahm ihre Arme wieder herunter.

Als sie Mutter und Kind erreicht hatte, fuhr die rechte Hand hoch und drückte die scharfe Klinge eines Messers gegen Irenes Hals.

»Jetzt wirst du tun, was wir dir sagen!« zischte die verhärmte Frau und wirkte plötzlich gar nicht mehr freundlich. Mit ihren verzerrten Gesichtszügen sah Elsbeth Wickert aus wie eine böse Hexe aus den Märchen, die Irene als Kind gehört hatte.

»Was... was wollen Sie von mir?« fragte Irene mit sich vor Angst überschlagender Stimme.

»Rache«, antwortete die Hexe mit dem Messer.

*

Will Perrys Fäuste schienen von allen Seiten zu kommen und trommelten nur so auf Jacob ein. Er hatte bald Mühe, unter den Schlägen wegzutauchen, und einige streiften ihn.

Während Jacob mit nacktem Oberkörper und zum Schutz erhobenen Armen durch den Boxring tänzelte, fragte er sich, ob er wirklich der richtige Mann für diese Art Arbeit war.

Will Perry jedenfalls schien es zu sein. Er beherrschte die Tricks und ließ Jacob nicht zur Ruhe kommen.

Perry war etwas kleiner als Jacob, wirkte aber insgesamt kräftiger. Seine Figur erinnerte an die von Martin. Auf seinem mit Schweißperlen bedeckten Gesicht stand Wut geschrieben. Wut auf Jacob, der ihm als Boxer vorgezogen worden war. Diese Wut trieb ihn an, vorwärts, immer weiter, Jacob nach, der nur zurückwich, seit das Training begonnen hatte.

Sam Rockwood lehnte draußen an den Seilen und betrachtete das Treiben scheinbar gleichgültig, eine glimmende Zigarre zwischen den stark gelichteten Reihen seiner gelben Zähne.

Jacob schoß die Frage durch den Kopf, was in dem Trainer vorgehen mochte. Hatte er bereits erkannt, daß Jacob nicht der geeignete Mann für den Boxring war?

Jacob hatte sich zu sehr seinen Gedanken hingegeben, hatte nicht aufgepaßt. Ein rechter Haken traf ihn am Kopf, wirbelte ihn herum und warf ihn in die Seile. Die getroffene Stelle pochte schmerzhaft, und die Schmerzen strahlten auf seinen ganzen Kopf aus.

Perry grinste schadenfroh, als er nachsetzte, um Jacob mit ein paar weiteren Schlägen endgültig zu erledigen.

Dieses Grinsen machte Jacob wütend. Er tauchte unter Perrys Schlägen weg, wirbelte herum und schoß eine rechte Gerade auf seinen Gegner ab, die sich gewaschen hatte und Perry am Kinn erwischte.

Für zwei, drei Sekunden stand Perry wie erstarrt im Ring. Als hätte der Schlag etwas in ihm zum Klingen gebracht, nach dem er lauschte.

Jacob nutzte diese Zeit für einen linken Haken, der Perry von schräg unten traf, wieder unters Kinn. Diesmal wurde Perry von den Seilen aufgefangen.

Jacob baute sich vor ihm auf, wartete, daß er wieder aus den Seilen kam. Als Perry sich abstieß, boxte er nicht, sondern umklammerte den Deutschen mit beiden Armen, taumelte mit ihm durch den Ring. Jacob wollte sich von ihm lösen, wollte seine Arme abstreifen, aber immer wieder klammerte sich der andere fest.

Plötzlich spürte Jacob einen stechenden Schmerz an seinem rechten Ohr. Sein Gegner riß an dem goldenen Ring, der als Zeichen der Zimmermannszunft durch Jacobs Ohrläppchen gezogen war.

Der Schmerz wurde immer stärker, als wolle Perry ihm den Ring herausreißen. Als Jacob den boshaften Ausdruck auf dem Gesicht des anderen sah, wußte er, daß er genau das vorhatte. Für Will Perry war dieser Kampf kein Training, sondern seine persönliche Rache an Jacob.

*

»Rache?« fragte Irene. »Wofür? Ich habe Ihnen doch nichts getan?«

Die junge Frau zitterte, nicht vor Kälte, sondern vor Angst. Sie war ganz allein in einem fremden Land, in einer großen Stadt, über die sich die Dunkelheit gesenkt hatte. Nur Anton Wickert und seine Frau schienen sich außer ihr in dieser schmalen Gasse aufzuhalten. Daß sie von ihnen nichts Gutes zu erwarten hatte, wußte Irene jetzt - zu spät.

Aus ein paar Fenstern drang Licht nach draußen. Dort drinnen mußten Menschen sein, die ihr helfen konnten. Aber sie wagte es nicht, um Hilfe zu rufen. An ihrer Kehle saß die scharfe Klinge des Messers. Der haßverzerrte Gesichtsausdruck der verhärmten Frau verriet, daß sie ihre Waffe nicht nur zum Drohen benutzen würde.