Irene hatte Angst, Todesangst. Auch um sich, aber noch mehr um den kleinen Jacob-Martin, den sie so fest an sich drückte, wie es ging. Was sollte aus dem Kind werden, wenn ihr etwas zustieß? Sein Vater war Tausende von Meilen entfernt und wußte nicht, wo sein Sohn sich aufhielt. Ja, er konnte nicht einmal wissen, daß er einen Sohn hatte.
Der Säugling wimmerte leise in sich hinein. Als spüre er die Gefahr und wage gleichzeitig nicht, laut zu schreien, um die Frau mit dem Messer nicht zu einer unbedachten Handlung hinzureißen. Irene wiegte ihn sanft hin und her, obwohl die Angst ihre Glieder lähmen wollte.
»Unser Kind ist tot!« zischte Frau Wickert vorwurfsvoll als Antwort auf Irenes Frage. »Wolfgang starb auf dem Schiff. Und du Schlampe, die nicht einmal einen Mann hat, hast ein Kind bekommen. Das ist ungerecht!«
»Aber ich kann doch nichts dafür, daß Ihr Wolfgang an der Cholera starb.«
»So? Wieso ist dir denn nichts geschehen? Dir und deinen beiden Freunden? Wieso habt ihr nicht die Cholera bekommen? Vor allem du, von der Geburt geschwächt?«
»Wir haben eben Glück gehabt.«
»Glück?« Frau Wickert stieß ein heiseres, boshaftes Lachen aus. »Ihr hattet höchstens das Glück, daß dieser Jacob Adler auf dem Schiff als Zimmermann gearbeitet hat und daß er gut mit Piet Hansen konnte. So habt ihr gute, frische Nahrungsmittel bekommen. Nicht das alte, faule Zeug, das wir anderen auf dem Zwischendeck essen mußten und das nicht uns, sondern nur die Cholera in uns genährt hat.«
»Das stimmt nicht!«
»Warum hat dein Freund Jacob uns dann davon abgehalten, mit dem Kapitän abzurechnen?«
»Jacob wollte euch vor größerem Schaden bewahren. Kapitän Haskin ist ein harter Mann. Er hätte euch zusammenschießen lassen.«
»Lügen, nichts als Lügen«, zischte die Frau, und ihr Messer drückte noch stärker gegen den Hals von Irene, die kaum noch zu atmen und zu schlucken wagte. »Ihr wolltet nur euren Vorrat an guten Lebensmitteln sichern!«
Das Flackern in Frau Wickerts Augen mußte Irrsinn sein, dachte Irene. Nur so waren die abwegigen Vorwürfe zu erklären, mit denen sie Irene überschüttete. Der Schmerz über den Verlust ihres einzigen Kindes mußte sie in den Wahnsinn getrieben haben.
»Herr Wickert, sagen Sie doch etwas!« verlangte Irene in der unbestimmten Hoffnung, der Mann möge vernünftiger sein. »Sagen Sie Ihrer Frau, daß sie sich irrt!«
Als die Augen des Mannes auf Irene ruhten, suchte sie in ihnen vergeblich nach dem wahnsinnigen Flackern, aber auch nach Mitleid. Die Augen blickten kalt, als sei ihr Besitzer längst tot. Oder als sei Irene kein Mensch, sondern nur eine Handelsware. Ja, genauso fühlte sie sich angesichts von Anton Wickerts Blick.
»Wir müssen weiter«, sagte der Mann nur und schritt tiefer in die Gasse hinein, noch immer Irenes Gepäck tragend.
»Du hast es gehört, Schlampe!« flüsterte seine Frau und stieß Irene mit der freien Hand weiter. Die andere Hand hielt das Messer immer in der Nähe von Irenes Hals.
Verwirrt befolgte Irene den Befehl und überlegte, was das Ziel der Wickerts sein mochte.
Als die Frau das Messer zückte, hatte Irene gedacht, sie sollte in der dunklen Gasse ermordet werden. Zwar besaß sie kaum Geld oder Wertsachen, aber sie hatte das Kind. In ihr war der schreckliche Gedanke aufgetaucht, daß die Wickerts den kleinen Jacob-Martin als Ersatz für ihren toten Sohn rauben wollten.
Jetzt bezweifelte Irene, daß ihre Überlegung richtig war. Die Gelegenheit, sie umzubringen, wäre dagewesen. Aber die Wickerts schienen ein bestimmtes Ziel vor Augen zu haben. Worum ging es ihnen wirklich?
Rache, hatte die Frau gesagt. Aber in welcher Form?
*
Jacob biß die Zähne zusammen, aber er ging immer tiefer in die Knie, desto stärker sein Gegner an seinem Ohrring zog. Vor sich sah er Will Perrys verschwitztes Gesicht, in das jetzt ein befriedigter Ausdruck trat. Der Ausdruck des Siegers, der seinen Triumph genoß und ihn möglichst lange hinauszögern wollte. Jacob sollte so lange leiden, so starke Schmerzen empfinden, wie es nur ging.
Der Deutsche riß beide Fäuste hoch und stieß sie gleichzeitig unter Perrys Kinn. Dort schien seine schwache Stelle zu liegen, wie Jacob vorhin bei der Geraden festgestellt hatte.
Perry stieß einen gurgelnden Laut aus, ließ Jacob los und taumelte zurück in die Ringmitte. Jacob sah nur noch den anderen Mann vor sich und spürte den Schmerz, der von seinem rechten Ohr ausging. Er setzte Perry nach und ließ seine Fäuste auf ihn fliegen.
Hätte er noch für etwas anderes Augen gehabt, hätte er bemerkt, daß in Sam Rockwood Interesse erwachte. Er folgte dem Geschehen im Ring jetzt so gebannt, daß er seine Zigarre ausgehen ließ.
Jacob stellte seine Schlagserie erst ein, als Perry vor ihm in die Knie ging. Das blutige Gesicht des anderen, jetzt kaum noch wiederzuerkennen, sah ungläubig zu ihm auf. Dann sackte der Boxer in sich zusammen und streckte sich lang auf dem Boden aus.
»Gut gemacht!« rief Rockwood und kletterte zwischen den Seilen durch in den Ring. »Erst dachte ich schon, du bist eine Flasche, aber du mußtest erst begreifen, daß dies kein Spiel ist, sondern blutiger Ernst!«
»Ja, blutiger Ernst«, murmelte Jacob und starrte auf Will Perrys blutiges Gesicht am Boden und dann auf seine eigenen Fäuste, an denen Blut klebte. Das Blut eines Menschen. Plötzlich war Jacob angewidert von dem, was er getan hatte. Und er war erschrocken darüber, daß er wie im Rausch gehandelt hatte, als er seinen Gegner niederschlug.
»Als Will an deinem Ohrring zerrte, um ihn dir rauszureißen, hast du begriffen, daß dies kein Spaß ist. Will hätte dir gar keinen größeren Gefallen tun können. Wir haben zwar verdammt wenig Zeit bis morgen abend, aber wenn ich dir die richtigen Kniffe beibringe, könntest du es schaffen. Du könntest Hodges besiegen!«
»Das glaube ich nicht«, sagte Jacob.
Rockwood sah ihn verwirrt an. »Warum nicht?«
»Weil ich nicht gegen ihn kämpfen werde.«
»Nein?«
»Nein.«
»Woher kommt dein plötzlicher Sinneswandel? Hat dir Will etwa Angst eingeprügelt?«
Jacob schüttelte den Kopf, hörte aber sofort damit auf, als sich die pochenden Kopfschmerzen wieder meldeten. »Keine Angst, sondern Verantwortungsgefühl. Es ist nicht richtig, sich zum Vergnügen anderer zu prügeln.«
»Aber wie Max erzählte, hast du dich heute schon einmal geschlagen!«
»Das war etwas anderes. Das mußte sein, weil dieser Joe und seine Gefährten über einen wehrlosen Mann hergefallen sind. Ich mußte ihm helfen. Aber dies hier?«
Wieder sah er auf Perry, der sich am Boden krümmte und vergeblich aufzustehen versuchte.
»Das ist nur Geschäft. Perry tut es für Geld. Hodges tut es für Geld. Und niemand wird dazu gezwungen. Sie tun es freiwillig, weil es andere gibt, die für das Zuschauen bezahlen. Es ist ihr Beruf. Auch du wirst Geld damit verdienen. Und das nicht zu knapp, wenn ich dich trainiere. Oder brauchst du etwa kein Geld, Jacob?«
Geld?
Jacob dachte an die fünfzig Dollar, die er für den Kampf am nächsten Abend erhalten sollte - falls er gewann. Das war für ihn eine Riesensumme. Und er brauchte Geld, um sich in diesem fremden Land namens Amerika durchzuschlagen. Um endlich seine Familie zu finden.
Aber war es richtig, Geld dafür zu nehmen, einen anderen Menschen zu schlagen? Andererseits, wenn jeder aus freien Stücken boxte, warum dann nicht?
Wie Sani Rockwood gesagt hatte, es war ein Geschäft. Schon die Seeleute auf der ALBANY hatten erzählt, daß in Amerika aus allem ein Geschäft gemacht würde. Wenn es hier so üblich war, warum sollte Jacob es anders machen?
»Was ist jetzt?« fragte Rockwood. »Trittst du gegen Hodges an oder nicht?«
»Ich werde darüber schlafen«, sagte Jacob, stieg aus dem Ring und griff nach einem schmutzigen Tuch, um das Blut von seinen Händen zu wischen.
*