Die Gasse schien endlos zu sein, aber dann wurde sie endlich belebter. Doch Irene wußte nicht, ob sie sich darüber freuen sollte. Schlampige, spärlich gekleidete Frauen lagen in Fenstern oder standen in Hauseingängen. Manche bedachten die kleine Gruppe nur mit müden Blicken, andere riefen ihnen Obszönitäten zu. Aber niemand schien etwas dabei zu finden, daß Frau Wickert ein Messer in ihrer Hand hielt.
»Seht mal, da wird neues Fleisch geliefert!« rief eine Frau einer anderen zu, und beide lachten laut.
Irene lief dabei ein kalter Schauer über den Rücken. Allmählich begriff sie, was sie hier sollte, was die Worte der Frau zu bedeuten hatten.
Anton Wickert hielt vor einem großen Haus mit vielen beleuchteten Fenstern an. Was hinter diesen Fenstern geschah, wurde durch dicke rote Vorhänge verborgen. Aber es schien hoch herzugehen. Das laute Geklimper eines Klaviers drang nach draußen und vermischte sich mit dem vergnügten Gejohle von Männern und Frauen.
Wickert mußte mehrmals an der Klingelschnur ziehen, bis die Tür endlich geöffnet wurde. Das Licht dahinter fiel auf die massige Gestalt eines kahlköpfigen Mannes. Wickert flüsterte mit ihm und rief dann Irene zu, sie solle hereinkommen.
Widerwillig betrat Irene das Haus, in dem es nach Alkohol, Tabak, Schweiß und Unmengen von Parfüm roch. Nicht jenes feine Parfüm, das sie oft bei gesellschaftlichen Anlässen im Haus des Reeders Dilger gerochen hatte, sondern billiges, schweres, ordinäres Parfüm, das die anderen Gerüche im Haus überdecken sollte und es doch nicht konnte.
Irene mußte über eine schmale Treppe in einen Keller steigen und dort in einen fensterlosen Raum treten, der nur durch eine Kerze in der Hand des Kahlkopfes beleuchtet wurde. Die Einrichtung bestand aus einem rostigen Bettgestell mit schmutzigem Bettzeug, einer wurmstichigen Kommode, einem wackligen Tisch und einem nicht minder wackligen Stuhl. Auf der Kommode stand eine Schüssel mit Wasser, das abgestanden roch.
»Was soll ich hier?« fragte Irene.
»Warten!« brummte der Kahlkopf.
»Auf wen?«
»Auf den Boß.«
»Wer ist das?«
»Wirst du schon sehen.«
Er verließ das Zimmer.
Frau Wickert warf ihr einen letzten flackernden Blick zu. »Warte hier, bis du schwarz bist, Schlampe!«
Sie ging hinaus, gefolgt von ihrem Mann, der vorher Irenes Sachen neben die Kommode gestellt hatte.
Als der Kahlkopf die Tür schloß, war es völlig dunkel in dem Kellerraum, denn er hatte die Kerze mitgenommen. Irene hörte das schwere Knarren eines Schlüssels und dann Schritte, die sich entfernten.
Sie wartete, bis es völlig still war. Dann ging sie zur Tür und versuchte, sie zu öffnen. Es gelang ihr nicht, so heftig sie auch an ihr rüttelte.
Mutlos tastete sie sich zum Bett und setzte sich auf das quietschende Gestell. Sie war noch am Leben und hatte ihr Kind bei sich. Aber sie wußte nicht, ob das ein Grund zur Freude war.
Jacob-Martin weinte plötzlich laut. Er hatte Hunger. Sie entblößte ihre Brust, um ihm zu trinken zu geben.
»Wenigstens du sollst keine Not leiden«, sagte sie und strich ihrem Kind zärtlich über die Stirn.
Sie verspürte eine seltsame Angst, daß sie das nicht mehr lange tun könnte.
*
Irene war gerade mit dem Stillen fertig, als sie erneut Schritte und dann das Geräusch hörte, das beim Herumdrehen des Schlüssels entstand. Schnell raffte sie ihre Kleidung zusammen, als auch schon die Tür knarrend aufschwang.
Das Licht einer Laterne fiel in ihr Gesicht und blendete sie, so daß sie anfangs gar nichts erkennen konnte. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen wieder an das Licht und erkannten die Gestalt eines Mannes, der eingetreten war und die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Ihr erster Gedanke galt Jacob. Jacob, der sie gefunden hatte und gekommen war, um sie zu retten.
Aber Irene mußte einsehen, daß ihr Wunsch der Vater dieses Gedankens gewesen war. Der Mann konnte nicht Jacob sein.
Als er die Laterne auf den Tisch stellte, konnte sie endlich sein Gesicht erkennen. Es war ein gutaussehendes, wenn auch ein wenig herbes Gesicht. Unter dem flachen grauen Zylinder lugten dunkle Haarsträhnen hervor.
»Herr Quidor«, entfuhr es der jungen Frau, die nicht wußte, was das Auftauchen des Geschäftsmannes zu bedeuten hatte. Mit ihm hatte sie nicht gerechnet.
»Guten Abend, Irene«, sagte er mit einer Höflichkeit, die kalt und falsch klang, und legte seinen Stock neben die Laterne. »Haben Sie sich an Ihr neues Heim schon ein wenig gewöhnt?«
Irene sah sich in dem traurigen Kellerraum um. »Das soll mein neues Heim sein?«
Quidor nickte. »Es sei denn, Sie zeigen sich fügsam.«
Er trat auf sie zu, ließ seine behandschuhte Rechte über ihr Gesicht gleiten, öffnete dann Irenes eilig und nur notdürftig geschlossene Bluse und nahm eine ihrer vollen Brüste in die Hand.
»Du bist wunderschön, Irene«, sagte er fast tonlos. »Das habe ich sofort bemerkt, als ich dich in Albert Handels Biergarten sah. Ich wollte gleich, daß du mir gehörst.«
»Ihnen gehören? Hier, in diesem Haus?«
»Was hast du gegen dieses Haus? Hierher kommen viele Männer, die hohe Positionen in der Stadtverwaltung und in der Wirtschaft bekleiden, um ihr Vergnügen zu haben.«
»Was soll ich hier?«
»Du wirst ihnen dieses Vergnügen liefern, falls du es nicht vorziehst, mir allein zur Verfügung zu stehen.«
Er drückte fester zu, und Irenes Brust schmerzte. Sie preßte die Lippen zusammen, um einen Schmerzenslaut zu unterdrücken. Diesen Triumph wollte sie Quidor nicht gönnen.
»Dann sind Sie der Boß?«
»Das bin ich.«
Endlich ließ er ihre Brust los. Irene unterdrückte den Impuls, ihre Bluse wieder zu schließen. Sie wollte nichts tun, was ihn reizte.
»Wieso haben die Wickerts Ihnen geholfen?«
»Sie standen zufällig vor dem Biergarten, als ich Sie entdeckte und gegenüber Tom und Henry meiner Bewunderung Ausdruck verlieh. Die Wickerts sprachen mich an und erzählten mir, daß sie Sie kannten. Da kam mir die Idee für die hübsche Geschichte mit dem Fleischer-Cousin.«
»Den gibt es also gar nicht?«
Quidor lachte, als freue er sich über seine eigene Schlauheit. »Nein, den gibt es nicht. Den Wickerts ging es ziemlich dreckig. Sie hatten kaum Geld und haben ihre Rollen für einen Spottpreis gespielt. Zehn Dollar habe ich ihnen gegeben. Lächerlich! So viel gebe ich einem Türsteher als Trinkgeld, wenn ich einen guten Tag habe.«
Wieder fuhr er über Irenes Gesicht, und sie roch das Leder seines schwarzen Handschuhes. »Hast du dich entschieden? Wenn du meine Frau wirst, werde ich dich behandeln wie eine Königin.«
»Ihre Frau?« fragte Irene und sah ihn voller Abscheu an. »Oder Ihre Hure?«
»Ich sehe, du bist noch nicht soweit. Schlaf eine Nacht darüber. Ich komme morgen noch einmal wieder.«
Er ging zur Tür, öffnete sie und stieß einen Pfiff aus.
Als Tom und Henry eintraten, schlug die Erleichterung, die gerade in Irene aufkeimen wollte, in panische Angst um. Wozu holte Quidor seine Leibwächter? Was sollte mit ihr geschehen?
Wie zwei steinerne Figuren standen die Leibwächter stumm und starr im Raum und warteten auf Quidors Anweisungen.
»Schnappt euch das Kind!«
»Nein!« schrie Irene auf und drückte den kleinen JacobMartin an sich, als die beiden dunkelgekleideten Männer auf das Bett zumarschierten. »Laßt mein Kind in Ruhe! Es hat euch nichts getan!«
Aber Tom und Henry waren ihre Schreie gleichgültig. Henry hielt die junge Frau fest, während Tom ihr das weinende Kind entriß. Henry ließ Irene los, und sie sackte kraftlos aufs Bett.
Doch als Irene sah, wie Tom mit ihrem Kind zur Tür ging, sprang sie auf und lief ihm nach.
Quidor nahm seinen Stock vom Tisch und hieb ihr den silbernen Knauf in den Bauch. Der heftige Schlag raubte Irene die Luft, und sie sank neben dem Tisch zu Boden. Hilflos mußte sie mit ansehen, wie Tom mit ihrem Sohn in dem dunklen Kellergang verschwand. »Warum?« röchelte Irene. »Was hat euch das Kind getan?« »Gar nichts«, sagte Quidor kalt und verließ den Raum. Henry nahm die Laterne vom Tisch und folgte ihm.