Weinend brach Irene in der Dunkelheit zusammen.
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Der geschlossene Zweispänner, der von zwei prächtigen Apfelschimmeln gezogen wurde, durchquerte das nächtliche New York in nördlicher Richtung. Uptown, wie die Amerikaner sagten. Über die Bowery, die in die Fourth Avenue überging, ratterte die Kutsche über das unebene Straßenpflaster bis zum Union Square, bog dort auf den Broadway ab, um am Madison Square auf die Fifth Avenue zu fahren.
Henry hockte auf dem Bock und lenkte das Gefährt. Im Innern saßen sich Max Quidor und Tom gegenüber. Der Mann mit der kreuzförmigen Stirnnarbe hielt das weinende Kind auf seinem Schoß und versuchte vergeblich, es zu beruhigen.
Sein Boß gab sich äußerlich unbeeindruckt. Wichtige Gedanken beschäftigten ihn. Gedanken, die um den Mann kreisten, zu dem sie unterwegs waren, James Duncan.
Duncan war einer der wichtigsten Industriemagnate der Nordstaaten und hatte seine Finger so ziemlich in allem, was Geld einbrachte: Waffen- und Bekleidungsfabriken, Eisenbahn- und Schiffahrtsgesellschaften und derlei mehr. Außerdem war er eines der einflußreichsten Mitglieder im Stadtrat von New York. Und er war ein guter Kunde jener in dunklen Gassen gelegenen Häuser, in denen Männer das Vergnügen fanden, das ihnen ihre prüden Gattinnen vorenthielten.
Quidor kannte Duncan, der ein ebenso leidenschaftlicher wie glückloser Spieler war, aus dem Golden Atlantic. Als er gehört hatte, daß der Großindustrielle auch in seinen Bordells verkehrte, hatte er durch die Huren mehr über ihn erfahren. Mit diesem Wissen versuchte er schon seit einiger Zeit, auf Duncan Einfluß zu nehmen. Quidor brauchte einen starken Fürsprecher im Stadtrat, denn in diesen Zeiten, in denen die Nativisten allen ans Leder wollten, die deutscher Abstammung waren, war selbst ein mächtiger Mann wie er nicht mehr sicher.
Schon mehrfach hatte die Polizei in den letzten Wochen Razzien in den Bordellen durchgeführt. Früher hatte es das nicht gegeben. Quidor ließ der »Polizeikasse«, wie er es nannte, regelmäßig »Spenden« zukommen, und dafür machten die Uniformierten einen großen Bogen um seine Etablissements. Und wenn sie ohne Uniform kamen, waren sie fürsorglich umhegte Gäste, die nichts zu bezahlen brauchten. Aber plötzlich hielten sich die Polizisten nicht mehr an das Abkommen. Der von den Nativisten beherrschte Stadtrat hatte sich dafür eingesetzt, in Dutchtown einmal ordentlich aufzuräumen.
Wenn Quidor seinen Einfluß auf Duncan geltend machen konnte, war das drohende Unheil vielleicht abzuwehren.
Der Mann in dem eleganten grauen Anzug betrachtete das wimmernde Kind auf Toms Schoß. Vielleicht würde der Säugling ihm helfen, seine Pläne zu verwirklichen. Die vielstöckigen prächtigen Hotels und Geschäfte, die an der Fifth Avenue lagen, wichen mehr und mehr großen Herrenhäusern, je näher die Kutsche dem Central Park kam. Das Gefährt hielt vor einem der größten und prunkvollsten dieser Anwesen, das am Hamilton Square lag.
Das eiserne Gitter stand offen, da es noch nicht besonders spät war. Ein mit kleinen Pflastersteinen belegter Weg führte einen grünen Hügel hinauf, auf dem eine weiße Villa thronte, die mit Verzierungen geradezu überladen war. Sie hätte einem König zur Ehre gereicht. Offiziell gab es in den Vereinigten Staaten von Amerika keine Könige. Inoffiziell waren es die Männer mit dem meisten Geld. Zu ihnen gehörte James Duncan.
Aber auch für Geld konnte man sich nicht alles kaufen. Darauf zählte Quidor, als er über den gepflasterten, in regelmäßigen Abständen von Laternen gesäumten Weg auf die Prunkvilla zuschritt. Vor dem Gittertor wartete die Kutsche mit Henry, Tom und dem Säugling. Es brauchte nicht jedermann mitzubekommen, welches Geschäft Quidor mit Duncan abwickeln wollte.
Ein livrierter Schwarzer mit weißem Haar und langen weißen Koteletten öffnete ihm und fragte nach seinem Begehr.
»Ich möchte mit Mr. Duncan sprechen.«
»Wen darf ich melden?«
»Einen guten Freund.«
Zum erstenmal zeigte das Gesicht des Schwarzen eine Regung; Unverständnis und Mißbilligung zeichneten sich auf seinem breiten Antlitz ab. »Das ist leider kein Name, den ich dem Herrn nennen kann.«
»Es wird ihm lieber sein, wenn Sie meinen Namen nicht nennen.«
»Dann kann ich Sie nicht melden.«
Quidor griff in seine Jackentasche, holte ein goldenes Zehndollarstück heraus und drückte es dem Schwarzen in die Hand. »Ist das wirklich so ein großes Problem?«
Mit einer eleganten, kaum wahrnehmbaren Bewegung ließ der Diener das Geldstück in einer Hosentasche verschwinden. »Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann, Sir. Wenn Sie in der Halle warten möchten?«
Er gab den Weg für Quidor frei.
Aber dieser schüttelte den Kopf. »Ich warte lieber hier draußen. Die Luft ist heute abend so schön mild.«
»Verstehe, Sir. Ich werde dem Herrn sagen, daß ein guter Freund an der Tür auf ihn wartet.«
»Tun Sie das«, sagte Quidor und schenkte dem Schwarzen ein entwaffnendes Grinsen.
Der Diener schob die Tür an.
Quidor wartete zwei, drei Minuten, bis tatsächlich James Duncan kam. Er war ein hagerer Yankee von fünfzig Jahren mit dem Gesicht eines Falken und allmählich zurückweichenden Haaren. Er schien sich schon auf einen Abend zu Hause eingerichtet zu haben und trug eine weinrote Hausjacke.
»Quidor?« fragte er überrascht, und eine tiefe, seine Mißbilligung und Verwunderung ausdrückende Falte bildete sich zwischen seinen Augen. »Was wollen Sie von mir? Ich habe Ihnen doch untersagt, mich zu Hause aufzusuchen!«
»Guten Abend, Mr. Duncan«, sagte der deutschstämmige Geschäftsmann höflich und tippte mit dem Knauf seines Stockes gegen seinen Hut. »Wichtige, keinen Aufschub duldende Geschäfte führten mich zu Ihnen. Aber keine Angst, es hat mich niemand gesehen außer Ihrem Diener.«
»Das will ich hoffen. Leider haben Sie den weiten Weg von Dutchtown hierher umsonst gemacht. Wie ich Ihnen schon mehrmals sagte, kann ich Sie nicht als Geschäftspartner akzeptieren.«
»Für dieses Geschäft schon. Ich will Ihnen nämlich ein Geschenk machen.«
»Ein Geschenk?«
»Aber ja. Es liegt dahinten in meinem Wagen. Wenn Sie mich begleiten wollen?«
Duncans für einen Augenblick überraschtes und interessiertes Gesicht wurde wieder hart. »Nein, das will ich nicht. Außerdem wüßte ich nicht, was Sie mir schenken könnten.«
»Sie müßten es sich schon ansehen, Mr. Duncan.«
»Verschwinden Sie endlich!«
»Erst wenn Sie sich das Geschenk angesehen haben. Dann lasse ich Sie in Ruhe, egal, ob Sie es annehmen oder nicht.«
»Habe ich darauf Ihr Wort, Quidor?«
»Das Wort eines Gentleman.«
In Duncans abschätzigem Blick war nur zu deutlich erkennbar, daß er seinen Besucher für alles andere als einen Gentleman hielt. Aber Quidor störte sich nicht daran. Als Geschäftsmann, der zielstrebig seine Ziele verfolgte, stand er über solchen Gefühlsduseleien. Persönliche Sympathien oder Animositäten hatten bei ihm noch nie eine Rolle gespielt, wenn es um seinen Profit ging.
»Also gut«, willigte der Großindustrielle ein. »Ich begleite Sie. Aber nur, damit ich meine Ruhe habe.«
»Wundervoll«, freute sich Quidor und ging, munter über das milde Frühlingswetter plaudernd, voran.
Duncan ging nicht darauf ein. Ihm war die Anwesenheit des Mannes aus Dutchtown überaus unangenehm. Es war eine Sache, nachts unerkannt die dunklen Gassen des Vergnügungsviertels auf der Suche nach einer drallen deutschen Hure zu durchstreifen. Aber eine andere, als der ehrenwerte James Frederick Duncan munter plaudernd mit dem zwielichtigen Geschäftemacher Max Quidor gesehen zu werden, noch dazu auf seinem eigenen Anwesen.