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»Schön und gut«, meinte Martin. »Aber was hat das alles mit uns zu tun? Dieser Desmond kann uns doch herzlich gleichgültig sein.«

»O nein! Schaut doch nur hinüber zu dem stinkenden Dampfer. Es sieht fast aus, als wollte er uns rammen. Falls es die STAR OF INDIA ist, besteht diese Gefahr tatsächlich. Desmond würde ich so etwas zutrauen. Er geht das Risiko ein, uns auf den Meeresgrund zu rammen, nur um vor uns in New York zu sein.«

»Was hat Desmond davon?« erkundigte sich Irene, während sie den kleinen Jacob-Martin, der eingeschlafen war, sanft auf ihrem Arm wiegte.

»Einen Tag, einen verdammten Tag!«

Die drei Auswanderer sahen den Seemann fragend an.

»Zeit ist Geld«, erklärte Hansen, »jedenfalls in der sogenannten christlichen Seefahrt. Die STAR OF INDIA ist ein großer Pott und hat bestimmt noch mehr Auswanderer geladen als unser Kahn. Die New Yorker Behörden können nur eine bestimmte Anzahl von Menschen pro Tag abfertigen. Das Schiff, das zuletzt den Hafen erreicht, läuft Gefahr, die Nacht über warten zu müssen und erst am nächsten Tag das Einwanderungsdepot anlaufen zu können.«

Jetzt verstanden Jacob, Martin und Irene, weshalb Hansen so besorgt war und weshalb er seine Matrosen in die Wanten gescheucht hatte.

Aber das Setzen der restlichen Segel schien ein vergebliches Manöver gewesen zu sein. Zwar erhöhte die ALBANY ihre Geschwindigkeit, aber trotzdem verringerte sich die Distanz zu dem Dampfschiff von Minute zu Minute. Beide Schiffe nutzten die Kraft des Windes, aber der Dampfer noch zusätzlich die seiner Maschinen; das verschaffte ihm den entscheidenden Vorteil.

Mißmutig stapfte Hansen in die Kapitänskajüte und kehrte mit einem Fernrohr zurück.

»Ich hatte recht«, brummte er noch mißmutiger als zuvor, nachdem er das fremde Schiff für eine Minute durch das Glas betrachtet hatte. »Es ist die STAR OF INDIA. Und sie hält immer noch Kurs auf uns!«

»Warum tut sie das, wenn sie sowieso schnell genug ist, uns zu überholen?« wollte Irene wissen.

»Weil Käpten Desmond um jede Sekunde kämpft und damit rechnet, daß wir schon ausweichen werden.«

»Und was werden wir tun?« fragte Martin.

»Ausweichen.«

»Sie wollen diesem Schuft nachgeben, Piet?«

»Was soll ich sonst tun? Riskieren, daß die ALBANY mit Mann und Maus untergeht? Das Rennen verlieren wir so oder so.«

Ganz so sah es aus. Die STAR OF INDIA war jetzt so nahe, daß man ihren in großen Buchstaben angebrachten Namen mit bloßen Augen erkennen konnte. Ihr Bug zeigte direkt auf das Heck des Seglers, als wolle sie ihn von achtern rammen und der Länge nach spalten.

Der großen Masse der Auswanderer an Bord der ALBANY war die dramatische Zuspitzung der Lage verborgen geblieben. Sie hielt das Wettrennen zwischen den beiden Schiffen für ein lustiges, harmloses Kräftemessen, an dem sie sich auf ihre Art beteiligte.

Viele Männer schlossen Wetten darauf ab, um wieviel eher der Dampfer New York erreichen würde. Denn daß er schneller war als der Segler, daran bestand für niemanden ein Zweifel.

Andere grüßten die Menschen auf dem fremden Schiff mit lauten Rufen, so ausgelassen, daß manche der Rufer ihre Hüte und Mützen hoch in die Luft schleuderten. Einige vergaßen dabei den kräftigen Wind und mußten zusehen, wie ihre Kopfbedeckungen davongewirbelt wurden und ins Meer fielen.

Das brachte einige der Auswanderer auf eine neue Idee. Sie verschwanden unter Deck und kehrten mit den Strohsäcken zurück, auf denen sie genächtigt hatten. Da sie fest damit rechneten, heute noch an Land zu gehen, waren die Hilfsmatratzen für sie überflüssig geworden. Es war für sie ein wahres Fest, die schmutzigen, stinkenden Dinger über die Reling ins Fahrwasser der ALBANY zu werfen.

Für die STAR OF INDIA waren sie allerdings nicht das geringste Hindernis. Der eiserne Rumpf warf sich wie ein gefräßiger Hai auf die Strohsäcke, und bald war von ihnen nichts mehr zu sehen.

Piet Hansen hatte die Passagiere nicht davon abgehalten, ihre Strohsäcke zu opfern. Er war ganz damit beschäftigt, die Kommandos für ein Ausweichmanöver zu geben. Wahrscheinlich hätten die Menschen in ihrem Überschwang auch gar nicht auf ihn gehört.

Als die STAR OF INDIA so nahe an der ALBANY war, daß kaum noch eine Schiffslänge dazwischenlag, schienen die ersten Passagiere den Ernst der Lage zu begreifen. Das laute Juchzen wurde leiser, und auf vielen der eben noch heiteren Gesichter zeichnete sich plötzlich Zweifel ab, ob die Situation tatsächlich so spaßig war, wie man allgemein dachte.

»Irene, geh mit dem Jungen lieber unter Deck«, sagte Jacob ernst, als der Dampfer zu einem riesigen Ungetüm heranwuchs.

Die blaugrünen Augen der jungen Frau sahen ihn ängstlich an. »Meinst du, es kommt zu einer Kollision?«

»Ich hoffe es nicht, aber es sieht ziemlich bedenklich aus.«

»Dann kommt lieber mit mir!«

»Als Schiffszimmermann werde ich vielleicht gebraucht«, erwiderte Jacob und steigerte damit noch die Angst auf Irenes schönem Gesicht.

»Ich begleite dich«, sagte Martin und schob die Frau mit sanfter Gewalt dem Eingang zum Zwischendeck entgegen.

Kaum war sein rotblonder Haarschopf unter Deck verschwunden, als sich die ALBANY stark nach backbord neigte und ihren bisherigen Kurs verließ. Ein paar der darauf nicht vorbereiteten Auswanderer purzelten wild durcheinander. Viele stürzten nur deshalb nicht, weil es an Deck zu voll zum Umfallen war.

Piet Hansen hatte die Bark wirklich im letzten Augenblick ausscheren lassen; Schon rauschte die STAR OF INDIA an ihr vorbei, so dicht, daß sich die Rümpfe fast berührten.

Der Dampfer schlug große Wellen, die den Segler kräftig durchschüttelten und seine Passagiere mit ihm. Viele der Menschen, die sich bisher an Bord hatten halten können, gingen jetzt doch zu Boden. Wo eben noch lauter Jubel und ausgelassene Heiterkeit geherrscht hatten, wurden jetzt Flüche und Verwünschungen ausgestoßen.

Lediglich die Besatzung der Bark hielt sich, an rauhen Seegang gewöhnt, gänzlich auf den Beinen. Auch Jacob stürzte nicht, denn er hatte sich an das Luftzugrohr geklammert, das hinter dem Großmast aus dem Deck kam und das Zwischendeck mit Frischluft versorgte.

An Bord des englischen Dampfers jubelten die Menschen, als ihr Schiff an dem Dreimaster vorbeizog und ihn immer weiter hinter sich zurückließ. Eine Menge Wünsche seitens der ALBANY-Passagiere begleiteten die STAR OF INDIA, aber es war kein einziger guter darunter.

»Teufel auch!« stieß der an der Gangspill stehende Piet Hansen hervor, als sich sein Schiff allmählich wieder beruhigte. »Das ist gerade noch mal gutgegangen!«

Er hatte kaum ausgesprochen, als er und Jacob einen lauten Hilferuf hörten. Er kam vom Eingang zum Zwischendeck, wo Martins Kopf aus der Luke schaute.

»Holt schnell ein paar Männer mit Werkzeugen!« rief der stämmige Bauernsohn keuchend. »Im Unterdeck sind ein paar Leute zwischen der Fracht eingeklemmt!«

*

Schnell hatten Hansen und Jacob einen Hilfstrupp, bestehend aus Seeleuten und ein paar standfesten Auswanderern, zusammengetrommelt und folgten Martin unter Deck.

Die STAR OF INDIA fuhr weiter davon und wurde immer kleiner, gänzlich unbeeindruckt von dem Schaden, den sie angerichtet hatte. Niemand an Bord des Dampfschiffes mochte etwas davon ahnen, aber das schmälerte nicht die Verantwortung des englischen Kapitäns.

»Was ist geschehen?« fragte Hansen, als er Martin erreichte.

»Einige Passagiere waren im Unterdeck, um Sachen aus ihrem Gepäck zu holen. Viele wollten ihren Sonntagsstaat anlegen. Als die AL-BANY ins Schlingern geriet, hat sich ein großer Stapel Fässer aus der Vertäuung gelöst und zusätzlich Kisten mitgerissen. Ein paar der Leute sind darunter begraben worden.«

Zwei Männer mit Laternen gingen voran, als die Hilfsgruppe in die Tiefe des Frachtraums hinabstieg. Noch auf der Stiege hörten sie von achtern die Hilferufe. Ein paar Auswanderer, Männer und Frauen, viele mit zerrissener Kleidung und mit Blessuren versehen, kamen ihnen entgegen und flehten Hansen um Hilfe für ihre eingeklemmten Freunde und Angehörigen an.