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Die Auswanderer wiesen ihnen den Weg zum Ort des Unfalls. Dort herrschte das reine Chaos durcheinanderliegender Frachtstücke, über die sich die Menschen einen Weg bahnen mußten. Das war nicht ungefährlich, rollten doch bei jedem Schlingern des Schiffes große Fässer hin und her. Hansen befahl ein paar Männern, die Fässer mit Tauen notdürftig zu sichern, so daß sie einstweilen keine Gefahr mehr bildeten.

»Wie viele sind noch eingeklemmt?« fragte er dann die Auswanderer.

»Noch drei von uns, die wir beim besten Willen nicht befreien konnten«, sagte ein kleiner älterer Mann mit weißem Spitzbart. »Es sind Johann Wiegmann und seine Frau und dann noch Eduard Raabe. Wir müssen schnell die Fracht von ihnen nehmen, bevor sie noch zerquetscht werden.«

»Eine höchst wacklige Geschichte, dieser Haufen aus Kisten und Fässern«, stellte Jacob fest. »Wenn wir nur ein falsches Frachtstück entfernen, stürzt alles in sich zusammen.«

»Was schlägst du vor, Junge?« fragte Hansen, dankbar für jeden vernünftigen Rat.

»Wir müssen den Haufen von oben abtragen. Dazu müssen wir aus ein paar Kisten eine Art Treppe bilden, auf die wir uns bei der Arbeit stellen können.«

»In Ordnung«, meinte Hansen. »Sag uns, was wir tun sollen, Jacob.«

»Das dauert viel zu lange!« beschwerte sich der Mann mit dem weißen Spitzbart. »Das halten die drei da unten nicht aus.«

»Ich sehe leider keine andere Möglichkeit«, entgegnete Jacob.

Hansen kürzte die Diskussion ab. »Fangt an mit dieser Kistentreppe!« befahl er.

Nach Jacobs Anweisungen bauten Seeleute und Auswanderer mit flinken Händen die Treppe auf. Auch die Frauen beteiligten sich an der Arbeit.

Dann kletterten die Menschen auf die Treppe, bildeten eine Kette und trugen den Frachtberg Stück für Stück ab. Die Arbeit ging mühselig und langsam vonstatten, weil etliche der Frachtstücke so schwer waren, daß sie nur von vielen Händen zugleich bewegt werden konnten. Da aber auf der improvisierten Treppe nur ein paar Arbeiter Platz fanden, dauerte es häufig Minuten, nur ein einziges Frachtstück von dem Haufen zu hieven.

Die Eingeklemmten riefen lauter und fordernder, um die Helfer zur Eile anzuhalten. Endlich streckte sich den Männern auf den Kisten ein Paar Arme entgegen, und eine Männerstimme rief: »Holt mich hier raus!«

Jacob und Martin, die ganz oben auf der Treppe standen, griffen nach den Armen und versuchten, den Eingeklemmten nach oben zu ziehen. Aber es ging nicht; der Mann saß fest.

»Es sind meine Füße«, keuchte der Auswanderer, den seine Gefährten als Eduard Raabe erkannten. »Sie stecken unter einer großen Kiste.« »Sie müssen versuchen, die Füße freizubekommen, während wir Sie nach oben ziehen!« sagte Jacob. »Aber vorsichtig, damit der ganze Stapel nicht zusammenfällt!«

»Will tun, was ich kann.«

Jacob zählte bis drei, und dann zogen er und Martin kräftig an Raabes Armen, jeder an einem. Erst schien es, als sei alle Anstrengung vergebens. Aber plötzlich kam der Auswanderer frei, so ruckartig, daß seine Helfer fast von der Kistentreppe gefallen wären.

Raabe, ein kleiner stämmiger Mittvierziger mit ergrauendem Haarkranz um eine kahle Stirn, hockte sich völlig ermattet auf die Treppe und holte tief Luft.

»Beim lieben Herrgott«, seufzte er.

»Ich hatte mich schon damit abgefunden, daß dieser Pott mein schwimmender Sarg sein würde.«

»Was ist mit den beiden anderen?« fragte Jacob.

»Wiegmann und seine Frau? Die sind ganz tief unter dem Stapel. Ich glaube, die Minna hält's nicht mehr lange aus.«

»Das sage ich doch die ganze Zeit!« rief laut der Spitzbart von unten. »Wir vertrödeln zuviel kostbare Zeit mit dieser Treppe. Laßt uns die Kisten und Fässer einfach beiseite ziehen, bevor Wiegmann und seine Frau drauf gehen.«

»Helft uns doch endlich!« kam Johann Wiegmanns Stimme unter dem Stapel vor. »Macht bloß schnell! Minna kann nicht mehr lange!«

»Willst du, daß wir die Kisten einfach beiseite räumen, Wiegmann?« fragte der Spitzbart laut.

»Ja doch, macht zu!«

»Das ist gefährlich!« mahnte Jacob noch einmal.

»Ach was, gefährlich«, wiegelte der Spitzbart ab. »Gefährlich ist es, noch mehr Zeit zu vertrödeln! Ihr habt doch alle gehört, was Johann gesagt hat.«

Die Auswanderer nahmen gegenüber Jacob und Hansen eine feindselige Haltung ein, als wollten sie es auf eine handgreifliche Auseinandersetzung ankommen lassen.

»Wiegmann, wie sollen wir vorgehen?« fragte Hansen.

Unter den gegebenen Umständen war es das Klügste, die Entscheidung dem Eingeklemmten zu überlassen. Eine Auseinandersetzung zwischen Auswanderern und Seeleuten kostete nur noch mehr kostbare Zeit.

»Zieht die verdammten Kisten weg, aber schnell! Ich höre die Minna kaum noch!«

»Da haben Sie es!« triumphierte der Spitzbart gegenüber Hansen.

»Also gut«, knurrte der alte Seebär unwillig. »Alles runter von der Treppe und hier unten mit anfassen!«

So geschah es, und jetzt nahm der Frachtberg rasch ab.

Bald streckten sich den Rettern erneut Hände entgegen, die von Johann Wiegmann. Ächzend kroch er zwischen dem Frachtgut hervor, die Kleidung zerrissen, die Haut an vielen Stellen abgeschürft.

»Helft Minna«, flüsterte er atemlos. »Helft ihr doch!«

Seine letzten Worte gingen in einem lauten Getöse unter, als der Frachtberg einstürzte. Die Männer und Frauen suchten das Weite, um herunterfallenden Kisten und umherrollenden Fässern zu entgehen.

»Das hatte ich befürchtet!« schrie Jacob gegen den Lärm, als er Hansen aus der Bahn eines heranrollenden Fasses riß.

Viele der Frachtstücke zersplitterten und verstreuten ihren Inhalt über den Boden. Ein aufgeplatztes Faß umspülte die Füße der Menschen mit einem Strom aus Rum.

Als der Spuk zu Ende war, glich dieser Teil des Unterdecks einem Schlachtfeld. Langsam fanden die Menschen sich wieder zusammen.

»Minna!« heulte Wiegmann auf. »Minna, wie geht es dir?«

Er erhielt keine Antwort.

Die Lähmung wich von den Menschen, und sie nahmen ihre Arbeit erneut auf. Sehr zügig, denn es bestand kein Grund mehr zur Vorsicht.

Zuerst legten sie die Beine von Minna Wiegmann frei, dann den Rest. Eine schwere Kiste hatte auf ihrem Kopf gelegen und ihn zertrümmert.

»Tot?« fragte ihr Mann ungläubig und warf sich dann schluchzend über den Leichnam. Er weinte hemmungslos, und sein Körper zuckte unter den Attacken des inneren Schmerzes.

»Sie haben vier Kinder, die jetzt ohne Mutter in die neue Heimat kommen«, sagte Raabe.

Der kleine Mann mit dem Spitzbart wollte sich leise davonstehlen, aber Jacob setzte ihm nach, packte ihn am Jackenaufschlag und schüttelte ihn so heftig durch, daß seine Augen vor Angst hervorzuquellen drohten.

»Bleiben Sie hier, Mann!« fauchte der Zimmermann zornig. »Sehen Sie sich an, was Sie angerichtet haben!«

Er stieß den Spitzbart so heftig in die Richtung der Toten, daß der Mann über herumliegende Trümmer stolperte und lang hinschlug.

Jacob sprang zu ihm und riß ihn hoch. »Sie sollen da hinsehen, habe ich gesagt!«

Hansen legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Laß es gut sein, Junge. Der Mann war im Unrecht, aber er hat auch nur helfen wollen. In solchen Situationen ist der Mensch nun mal häufig kopflos.«

Jacob sah ein, daß der Seemann recht hatte. Er konnte nichts mehr ändern, ließ nur seinen Zorn über den ungerechten Tod an dem kleinen Mann mit dem Spitzbart aus. Er ließ ihn los, aber der Mann blieb am Boden hocken und starrte wie gebannt auf den weinenden Auswanderer und seine tote Frau.

»Es gibt nur einen Mann, den wirklich eine Schuld am Tod dieser Frau trifft«, fuhr Hansen fort und erhob drohend die Faust. »Gnade dir Gott, Oliver Desmond. Wenn ich dich zwischen die Finger kriege, wirst du dir wünschen, niemals geboren zu sein!«