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Als die Menschen aus dem Bauch der ALBANY wieder an Deck stiegen, war von der STAR OF INDIA nichts mehr zu sehen, nicht einmal eine Rauchfahne am Horizont.

Die Nachricht über das tödliche Unglück breitete sich aus wie ein Lauffeuer. Die ausgelassene Stimmung, die noch vor weniger als einer Stunde an Bord geherrscht hatte, war wie weggeblasen. Jetzt schauten die Auswanderer betreten drein und schwiegen, oder sie wünschten den Menschen auf dem englischen Dampfer Pest und Cholera an den Hals.

Mit ihren sämtlich gesetzten Segeln kam die Bark der Küste rasch näher. Die dünne Linie des Landes am Horizont wurde beständig dicker, und bald sah man von Bord aus die große Stadt namens New York, deren Hafen das Ziel der ALBANY war.

Mit dem überraschenden Auftauchen der STAR OF INDIA hatte die wochenlange Einsamkeit des Seglers ein jähes Ende gefunden. Je näher man dem Hafen kam, desto mehr konnte man den Eindruck bekommen, das Meer sei mindestens ebenso stark bevölkert wie die Straßen von Hamburg. Schiffe aller Größen und Bauarten kreuzten vor New Yorks Küste. Die ALBANY hatte die meisten Segel gerefft und fuhr jetzt sehr langsam, um nicht mit einem der vielen Schiffe und Boote zu kollidieren.

Um dem Gedränge am Bug zu entgehen, hatten sich Jacob und Martin zu Piet Hansen auf das Achterdeck gesellt. Irene wachte im Zwischendeck bei ihrem schlafenden Kind; den beiden war zu Jacobs großer Erleichterung nichts zugestoßen.

Hansen zog wieder sein Fernrohr aus, um die Küste zu betrachten. Plötzlich stieß er ein wütendes Knurren aus.

»Da liegt der verdammte Dampfer schon an der Quarantänestation!«

»Quarantänestation?« wiederholte Jacob. »Wieso das?«

»Bloße Routine«, erklärte der Seebär. »Die müssen wir auch noch hinter uns bringen. Hoffentlich kriegen wir keine Schwierigkeiten wegen unserer Choleratoten, sonst liegen wir Tage oder Wochen dort fest. Dabei würde ich es diesem verfluchten Engländer fast wünschen, einen Monat lang unter Quarantäne zu stehen!«

Jacob lieh sich von Hansen das Fernrohr und fand bald die schwimmende Plattform vor der Küste, vor der die STAR OF INDIA lag. Das Dampfschiff schaukelte so friedlich auf den Wellen, daß Jacob für Sekunden geneigt war, das Wettrennen für einen bloßen Alptraum zu halten. Aber die tote Frau, die jetzt im Zwischendeck lag, bewies das Gegenteil.

Jacob wollte das Fernrohr gerade an Hansen zurückgeben, als ihm ein kleiner Dampfkutter auffiel, der in voller Fahrt auf die ALBANY zuhielt. Er machte den Kommandanten der Bark darauf aufmerksam, und Hansen spähte erneut durch das Fernrohr.

»Es ist das Lotsenboot«, stellte er fest. »Bald werden wir erfahren, ob ihr heute noch an Land gehen könnt.«

Der Kutter verringerte seine Geschwindigkeit und setzte ein Ruderboot aus, als er in der Nähe der Bark war. Zwei Matrosen ruderten einen dritten Mann zu dem Segler herüber, den er über die Jakobsleiter enterte. Der Mann war jung, klein, drahtig und trug eine Schirmmütze auf dem schmalen Kopf. Hansen begrüßte ihn, während das Ruderboot zum Kutter zurückfuhr, und der Lotse stellte sich mit dem Namen Carter vor. »Können wir gleich in den Hafen einlaufen, Mr. Carter?« erkundigte sich Hansen.

»Einlaufen schon, aber Ihre Passagiere können das Schiff erst morgen verlassen, Captain. Die Quarantänestation und das Einwandererdepot haben uns mitgeteilt, daß sie heute keine zweite Schiffsladung Auswanderer mehr durchschleusen können. Ihre ALBANY ist der achte Auswanderertransport, der in den Hafen einläuft.«

»Das haben wir nur dieser vermaledeiten STAR OF INDIA zu verdanken!« verschaffte Hansen seinem Ärger Luft.

»Der Engländer war halt schneller als Sie, Captain. Das ist Pech.«

»Das ist nicht nur Pech, sondern eine verdammte Rücksichtslosigkeit, bei der eine Frau ihr Leben verloren hat.«

Als der Lotse ihn verwirrt ansah, erzählte ihm Hansen, was sich ereignet hatte.

»Eine ziemlich üble Geschichte, die Sie da erlebt haben«, befand Carter. »Da hat nicht nur Ihr Schiff, sondern auch diese Auswandererfrau Pech gehabt.«

»Pech? Das nennen Sie Pech? Für mich war das kaltblütiger Mord, für den ich Captain Desmond zur Verantwortung ziehen werde!«

»Damit werden Sie kaum durchkommen. Wie wollen Sie dem Captain der STAR OF INDIA eine Tötungsabsicht nachweisen? Jedes Gericht wird sagen, es war einer jener tragischen Unfälle, wie sie sich auf See immer wieder ereignen.«

Eine Weile schwieg Hansen und sah zum Festland hinüber, wo der englische Dampfer vor Anker lag. Zu weit entfernt noch, um ihn mit bloßem Auge zu erkennen.

Dann seufzte er und sagte: »Sie haben wohl recht, Mr. Carter, leider. Trotzdem sollte sich Desmond hüten, in meine Nähe zu kommen!«

Der kleine Dampfkutter hatte wieder Fahrt aufgenommen und tuckerte, eine kräftige Rauchfahne durch seinen Schornstein blasend, zur Küste zurück. Der Lotse begab sich mit Hansen aufs Achterdeck, und bald folgte die ALBANY dem Kutter, von Carter sicher durch das seichter werdende Hafengewässer geleitet.

Staunend betrachteten die Auswanderer die riesige, scheinbar grenzenlose Stadt, die vor ihren Augen heranwuchs. Und davor, im Hafen, eine zweite Stadt aus Schiffsrümpfen, Masten und Schornsteinen.

Die ALBANY hielt auf die Südspitze der Insel Manhattan zu, wo auf einem ins Meer ragenden und mit dem Land nur durch einen Steg verbundenen Zipfel das große Einwanderungsdepot von Castle Garden thronte. Ein gewaltiger Rundbau, der früher zur Vergnügungsanlage des Battery Parks gehört und als Konzertsaal gedient hatte.

Die STAR OF INDIA hatte den Liegeplatz an der schwimmenden Plattform der Quarantänestation verlassen und vor Castle Garden Anker geworfen. Ein ganzer Schwarm kleiner Boote pendelte zwischen ihr und dem Depot hin und her, um Auswanderer und Gepäck an Land zu bringen.

Die Passagiere der ALBANY, die inzwischen von ihrem Pech gehört hatten, schauten dem Treiben neidisch zu und hatten einen Grund mehr, dem Dampfschiff alle Schlechtigkeiten dieser Welt zu wünschen, wovon sie auch reichlich Gebrauch machten.

Der Dreimaster holte alle Segel ein und warf in der Nähe der Quarantänestation Anker. Der Lotsenkutter näherte sich erneut und nahm Carter wieder an Bord, nachdem Hansen ihn für seine Dienste bezahlt hatte.

Solange noch die Sonne schien, drängten sich die Auswanderer aufs Deck, um von fern die mächtigen Gebäude und Türme New Yorks in Augenschein zu nehmen, die sie schon am nächsten Tag aus der Nähe kennenlernen sollten. Allerdings hatten nicht alle Zeit dazu, denn Hansen ordnete ein allgemeines Großreinemachen und Wäschewaschen an. Das Schiff sollte am nächsten Tag bei der ärztlichen Inspektion einen guten Eindruck machen. Auch achteten die Beamten der Einwanderungskommission aus Gründen der Hygiene streng darauf, keine zerlumpten Schmutzfinken an Land zu lassen.

Die letzte Nacht an Bord verbrachten viele sehr unruhig, obwohl die ALBANY so still lag wie seit Wochen nicht mehr. Die Aufregung über das bevorstehende Betreten der Neuen Welt war daran schuld, aber auch der Umstand, daß viele Auswanderer ihre Strohsäcke im voreiligen Überschwang der Gefühle ins Meer geworfen hatten und jetzt auf den harten Brettern der Schlafstellen nächtigen mußten.

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Als Jacob früh am nächsten Morgen auf Deck erschien, stand Piet Hansen bereits auf dem Achterdeck und sah mit zerfurchter Stirn zur Quarantänestation hinüber. Die Pfeife hing kalt in seinem Mundwinkel und schien von ihrem Besitzer gänzlich vergessen zu sein.

»Wir sind endlich am Ziel«, sagte Jacob. »Die letzte Nacht ist auch überstanden. Was quält Sie so, Piet?«

»Die Frage, was der Arzt der Quarantänestation dazu sagen wird, daß wir noch vor einem Monat die Cholera an Bord hatten. Eine Nacht haben die Auswanderer noch ausgeharrt. Aber was werden sie von einer mehrwöchigen Quarantäne halten?«