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Sie verließen den abgesperrten Bezirk des Einwanderungsdepots und gerieten in einen wahren Menschenauflauf. Die Runner, vor denen sie gewarnt worden waren, versuchten ihre Geschäfte mit den unerfahrenen Neuankömmlingen zu machen. Sie boten Rat und Tat an, Unterkunft und Arbeit, Fahrkarten, Pferde und komplette Fuhrwerke.

»Wir sehen uns lieber in Klein-Deutschland direkt nach Unterkunft und Arbeit um«, sagte Jacob noch einmal eingedenk der Warnungen, die Piet Hansen und die Einwanderungsbeamten ausgesprochen hatten.

Sie wehrten aufdringliche Hände ab und kämpften sich durch die Menschenmenge hindurch, bis sie endlich freien Blick auf die fremde Stadt hatten.

Es war ein überwältigendes Bild, das sich ihnen bot. Links der Hudson und rechts der East River. Dazwischen die sich keilförmig verbreiternde Insel Manhattan mit schnurgeraden Straßen, die sich bis zum Horizont zu erstrecken schienen. Die Straßen waren breiter und die Häuser höher als alles, was sie in Deutschland jemals gesehen hatten. Trotz der Breite der Straßen herrschte auf ihnen eine drangvolle Enge. Manche Geschäfte hatten ihre Auslagen draußen auf Ständen, die bis an die Fahrbahn reichten, auf der sich Pferde und Fuhrwerke so rigoros einen Weg suchten, daß sich Fußgänger äußerst vorsichtig bewegen mußten, wollten sie nicht unter die Hufe oder die Räder kommen.

Martin brachte es mit einem Satz auf den Punkt: »Hier ist alles größer und breiter als in Deutschland, und von allem gibt es viel mehr.«

Staunend wanderten sie durch die Straßen und vergaßen fast die Zeit darüber. Schließlich fragten sie einen Polizisten nach dem Weg zum Tomkins Square. Er riet ihnen, einen Omnibus zu nehmen, da der Weg noch recht weit war.

Der von zwei kräftigen Kaltblütern gezogene Bus brachte sie bis zur Avenue A, die an der Westseite des Tomkins Square mitten durch Klein-Deutschland lief und auf der sich Lokale, Restaurants und Kolonialwarengeschäfte aneinanderreihten. Manchmal waren die Namen in Deutsch geschrieben, manchmal in Englisch, manchmal in einem seltsamen Mischmasch und häufig auch in beiden Sprachen. Ähnliches galt für die Namen der Inhaber, die - wie in Newmans Fall -oft dem Englischen angeglichen waren.

Sie spürten ihren Hunger, hatten sie doch seit dem Frühstück auf der ALBANY nichts mehr zu sich genommen. Deshalb kehrten sie in einem Restaurant ein, über dem ein großes Schild mit der deutschenglischen Kauderwelsch-Aufschrift »Albert's Bier-Garden« hing. Außerdem hofften sie hier zu erfahren, wo sie vielleicht Arbeit und Unterkunft finden konnten.

Der Biergarten war nur mäßig besucht, was daran liegen mochte, daß die Zeit zum Abendessen und fröhlichen Beisammensein noch nicht gekommen war. Sie ließen sich im Schatten einer großen Linde an einem der zahlreichen Tische vor dem Gebäudeeingang nieder und bestellten bei einem jungen Ober Erbseneintopf. Die Männer tranken Bier und Irene einen Apfelsaft.

Während sie hungrig den Eintopf in sich hineinlöffelten, erweckte ein lärmender Trupp von vier Männern, durchweg kräftige Kerle, ihre Aufmerksamkeit. Unter lautem Getöse ließen sie sich an einem Tisch im Biergarten nieder und riefen aus vollem Hals nach dem Ober.

Sie sprachen ein Englisch, das Jacob nur mit Mühe verstand und das ihn an Paddy O'Rourke, den irischen Segelmacher der ALBANY, erinnerte. Auch die rote Färbung der Haare bei den meisten der neuen Gäste deutete darauf hin, daß sie oder ihre Vorfahren in Irland geboren waren.

Als der junge Ober kam, um die Bestellungen aufzunehmen, stand in seinem Gesicht deutlich das Unbehagen geschrieben, das er gegenüber den vier Neuankömmlingen empfand. Nur zögernd näherte er sich dem Tisch, und seine Hand, die den Bleistift führte, zitterte, als er ihre Bestellungen notierte.

»Und beeil dich, Dutch«, rief einer der Iren ihm nach. »Wir haben Hunger und legen keinen Wert auf die Gemütlichkeit der Germans!«

»Sieh mal, wie er läuft, Joe«, sagte ein anderer Mann zu dem, der eben dem Ober nachgerufen hatte. »Der Dutch stolpert noch über seine eigenen Beine, wenn er so dämlich ist wie alle seine Landsleute.«

Tatsächlich hatte der Ober, vom polternden Auftreten der Iren beeindruckt, seine Schritte beschleunigt.

Der Mann namens Joe, offensichtlich der Wortführer der vier, war zugleich der Größte und Kräftigste von ihnen. Ein wahrer Riese, der selbst den hochgewachsenen Jacob noch um einen ganzen Kopf überragte. Seine Schultern waren noch breiter als die des Zimmermannes. Insgesamt war seine Figur massiger, wirkte aber nicht fett. Unter seinem schmutzigen Kattunhemd spannten sich muskulöse Oberarme von gewaltigem Durchmesser. Seine Hände waren so groß wie Schaufelblätter und dichtbehaart. Die Haare schimmerten rötlich.

Überhaupt schien Rot die vorherrschende Farbe bei Joe zu sein. Unter einer speckigen Mütze lugten Haare von einer feuerroten Farbe hervor, wie sie Jacob niemals zuvor bei einem Menschen gesehen hatte. Joes Kattunhemd war dunkelrot, und seine darunter hervorquellenden Brusthaare hoben sich kaum davon ab. Selbst Joes Gesicht war gerötet wie das eines Cholerikers oder eines Säufers, und seine Augen waren von unzähligen roten Äderchen durchzogen.

So wirkte der Ire wie ein Teufel, ein der Hölle entstiegener Titan.

Irene erschauerte und drückte ihren Sohn enger an sich.

»Was hast du?« fragte Jacob.

»Dieser riesige Mann dort macht mir angst. Er erinnert mich an Bob Maxwell. Sein Gesicht hat den gleichen brutalen, menschenverachtenden Ausdruck. Der Ausdruck eines Mannes, der seine überlegene Kraft dazu mißbraucht, andere zu quälen.«

»Bob Maxwell ist tot«, versuchte Jacob sie zu beruhigen. »Und mit diesem Kerl dort haben wir nichts zu schaffen. Vielleicht gefällt er sich einfach darin, anderen Angst einzujagen.«

Aber insgeheim mußte er Irene recht geben. Er dachte mit Abscheu an den narbengesichtigen Maxwell, den Ersten Steuermann der AL-BANY, der Irene Gewalt antun und Jacob töten wollte und dann im Gerangel mit einem seiner eigenen Gefolgsleute von einer tödlichen Kugel getroffen worden war. Erst ab diesem Zeitpunkt war auf der Bark wieder Ruhe eingekehrt. Auch der Ire namens Joe schien einer dieser Menschen zu sein, die überall, wo sie auftauchten, Unruhe und Angst verbreiteten und sich daran labten. Nur das schien der Lebensinhalt dieser im Grunde bemitleidenswerten Kreaturen zu sein.

Der Ober kehrte mit einem Tablett zurück, auf dem vier große Bierkrüge standen, die er vor den Iren auf den Tisch stellte. Kaum hatte er das getan, griffen die Männer auch schon nach den Krügen und führten sie zum Mund. Joe tat dies am schnellsten und knallte den Krug, nachdem er einen Schluck getrunken hatte, mit angewidertem Gesichtsausdruck so heftig auf die Tischplatte, daß der Inhalt überschwappte.

»Was ist denn das für ein Gesöff, Dutch?« raunzte er den Ober an, bevor der sich entfernen konnte.

»Bier, wie Sie es bestellt haben.«

»Das soll Bier sein?« Joes Blick glitt über seine Gefährten, deren Gesichter ähnlichen Abscheu ausdrückten wie sein eigenes. »Nennt ihr das Bier, Freunde?«

Sie schüttelten die Köpfe und taten lauthals ihren Unmut über das Getränk kund.

Jacob und Martin sahen sich an, und jeder las in den Augen des anderen dasselbe. Die Iren trieben ein abgekartetes Spiel mit dem Ober. Den beiden deutschen Einwanderern hatte das Bier hervorragend geschmeckt.

»Was ist das für ein Gebräu, Dutch?« fragte Joe und hielt seinen Krug hoch. »Etwa Gift, mit dem ihr Germans anständige Iren hinterhältig unter die Erde bringen wollt?«

Der Ober sah verzweifelt aus. »Nein, Sir. Dieses Bier schenken wir hier jedem aus.«

»Jedem anständigen Iren, wolltest du wohl sagen, was?«

»Wenn Ihnen das Bier nicht schmeckt, bezahlen Sie es nicht«, sagte der Ober und wollte schnell davongehen.

Aber Joe war fixer und streckte sein rechtes Bein aus, über das der junge Deutsche stolperte. Er schlug längs auf den Boden, und sein leeres Tablett schlitterte unter einen der freien Tische.