Dann fiel ihr Akkarin wieder ein. Nein, es ist noch nicht vorbei, rief sie sich ins Gedächtnis. Aber für den Augenblick bin nicht ich diejenige, die sich darüber den Kopf zerbrechen muss.
»Du hättest es mir erzählen sollen, Sonea.«
Als sie die Augen öffnete, stand Rothen vor ihr, mit Cery an seiner Seite. Sie senkte den Blick.
»Es tut mir Leid.«
Zu ihrer Überraschung zog Rothen sie kurz an sich. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, erwiderte er. »Du musstest einen Freund beschützen.« Er wandte sich an Cery. »Ich möchte mich im Namen der Gilde bei dir entschuldigen.«
Cery lächelte und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Gebt mir meine Sachen zurück, und ich werde die ganze Angelegenheit vergessen.«
Rothen runzelte die Stirn. »Was vermisst du denn?«
»Zwei Dolche, einige Messer und meine Werkzeuge.«
»Werkzeuge?«, wiederholte Rothen.
»Dietriche.«
Rothen sah Sonea mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Er macht keinen Witz, oder?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich werde feststellen, was sich da tun lässt.« Rothen seufzte, dann blickte er über Soneas Schulter. »Ah! Hier kommt ein Mann, der sich besser mit den Gepflogenheiten der Diebe auskennt als ich – Lord Dannyl.«
Als Sonea sich umdrehte, legte der hochgewachsene Magier ihr die Hand auf die Schulter und lächelte sie an.
»Gut gemacht!«, sagte er. »Du hast mir und dem Rest der Gilde einen großen Dienst erwiesen.«
Rothen grinste. »Du scheinst heute besonders gut gelaunt zu sein, Dannyl.«
Dannyl sah seinen Freund herablassend an. »Wer hatte nun Recht, was Fergun betrifft?«
Rothen nickte seufzend. »Du hattest Recht.«
»Jetzt verstehst du endlich, warum ich ihn so verabscheut habe?« Als Dannyls Blick auf Cery fiel, wurde seine Miene plötzlich nachdenklich. »Ich glaube, die Diebe suchen nach dir. Sie haben mir eine Nachricht geschickt, in der sie sich danach erkundigt haben, ob ich wüsste, wo ein bestimmter Freund von Sonea abgeblieben sei. Sie klangen ziemlich besorgt.«
»Wer hat die Nachricht geschickt?«, wollte Cery wissen.
»Ein Mann namens Gorin.«
Sonea legte die Stirn in Falten. »Also war Gorin derjenige, der mich an die Gilde verraten hat, nicht Faren.«
Cery starrte sie an. »Sie haben dich verraten?«
Sie zuckte die Achseln. »Sie hatten keine andere Wahl. Genau genommen war es gut, dass sie das getan haben.«
»Darum geht es nicht.« Ein Funkeln war in Cerys Augen getreten. Sonea, die erriet, was er dachte, lächelte.
Und ich liebe ihn doch, ging es ihr plötzlich durch den Kopf. Aber fürs Erste ist es die Liebe, die man für einen Freund empfindet. Doch wenn sie ein wenig Zeit miteinander verbringen konnten, abseits all der Probleme der vergangenen Monate, würde aus diesem Gefühl vielleicht mehr werden. Aber sie machte sich nichts vor. Jetzt, da sie der Gilde beitrat und er höchstwahrscheinlich zu den Dieben zurückkehren würde, war eine solche Möglichkeit ausgeschlossen. Ein Stich des Bedauerns durchzuckte sie bei diesem Gedanken, aber sie schob die Regung hastig beiseite.
Sie sah sich in der Halle um und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass sie sich inzwischen beinahe geleert hatte. Fergun stand immer noch in einiger Entfernung, umgeben von einer Gruppe von Magiern. Als sie in seine Richtung schaute, fing er ihren Blick auf und grinste höhnisch.
»Was für ein Paar«, sagte er. »Der eine treibt sich mit Bettlern herum, der andere mit Dieben.« Seine Gefährten lachten.
»Sollte man ihn nicht einsperren oder irgendetwas?«, überlegte sie laut.
Rothen, Dannyl und Cery drehten sich zu dem Magier um.
»Nein«, erwiderte Rothen. »Man wird ihn beobachten, aber er weiß, dass er eine gewisse Chance hat, nicht aus der Gilde ausgestoßen zu werden, sofern er sich reuig zeigt. Höchstwahrscheinlich wird man ihm eine Aufgabe zuweisen, die niemand haben will und die ihn für mehrere Jahre an einen entlegenen Ort verschlagen wird.«
Fergun machte ein finsteres Gesicht, dann drehte er sich auf dem Absatz um und ging, gefolgt von seinen Gefährten, zur Tür hinüber. Dannyls Lächeln wurde breiter, aber Rothen schüttelte traurig den Kopf. Cery zuckte die Achseln und wandte sich wieder zu Sonea um.
»Was ist mit dir?«, fragte er.
»Sonea steht es frei zu gehen«, erwiderte Rothen. »Sie wird jedoch noch ein oder zwei Tage in der Gilde bleiben müssen. Das Gesetz verlangt, dass wir ihre Kräfte blockieren, bevor sie ins Hüttenviertel zurückkehrt.«
Cery sah sie besorgt an. »Blockieren? Sie werden deine Magie blockieren?«
Sonea schüttelte den Kopf. »Nein.«
Rothen runzelte die Stirn, dann musterte er sie forschend. »Nein?«
»Natürlich nicht. Das würde es schwer machen, mich zu unterrichten, nicht wahr?«
Er blinzelte. »Dann willst du also wirklich bleiben?«
»Ja.« Sie lächelte. »Ich bleibe.«
Epilog
In der Luft über dem Tisch schwebte ein Lichtfunke. Er dehnte sich langsam zu einer Kugel aus, die etwa so groß wie der Kopf eines Kindes war und gemächlich zur Decke emporstieg.
»Das war’s«, erklärte Rothen. »Du hast eine Lichtkugel geschaffen.«
Sonea lächelte. »Jetzt fühle ich mich wirklich wie eine Magierin.«
Rothen sah sie an, und ihm wurde warm ums Herz. Er konnte kaum der Versuchung widerstehen, ihr noch weitere magische Fertigkeiten beizubringen, da ihr das offensichtlich so viel Freude bereitete.
»Bei der Geschwindigkeit, mit der du lernst, wirst du den anderen Novizen weit voraus sein, wenn du mit dem Unterricht in der Universität anfängst«, sagte er. »Zumindest was Magie betrifft. Aber…« Er beugte sich über einen Stapel Bücher neben seinem Stuhl und ging sie eins nach dem anderen durch. »Mit dem Rechnen liegst du weit zurück«, erklärte er entschieden. »Es wird Zeit, dass wir uns wieder der eigentlichen Arbeit zuwenden.«
Sonea blickte auf die Bücher hinab und seufzte. »Hätte ich doch bloß gewusst, welcher Folter Ihr mich unterziehen würdet, bevor ich mich zum Bleiben entschlossen habe.«
Leise kichernd schob Rothen ein Buch über den Tisch. Dann hielt er inne und sah sie mit schmalen Augen an. »Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.«
»Welche Frage?«
»Wann hast du dich dazu entschieden zu bleiben?«
Sonea, die bereits nach dem Buch hatte greifen wollen, hielt mitten in der Bewegung inne. Sie blickte zu Rothen auf. Das Lächeln, das sie ihm zuwarf, reichte nicht bis in ihre Augen.
»Als mir klar wurde, dass es das Richtige wäre«, antwortete sie.
»Also, Sonea.« Rothen drohte ihr mit dem Zeigefinger. »Untersteh dich, mir schon wieder auszuweichen.«
Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Ich habe mich bei der Anhörung dafür entschieden«, sagte sie. »Fergun hat mir bewusst gemacht, was ich aufgeben würde, aber das war es nicht, was meine Meinung geändert hat. Cery meinte, es wäre eine Dummheit, wenn ich wieder nach Hause ginge, und das hat durchaus geholfen.«
Rothen lachte. »Ich mag deinen Freund. Ich billige nicht, was er tut, aber ich mag ihn.«
Sonea nickte, dann schürzte sie die Lippen. »Rothen, besteht auch nur die geringste Möglichkeit, dass irgendjemand uns hier hören könnte?«, fragte sie. »Diener? Andere Magier?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein.«
Sie beugte sich vor. »Seid Ihr Euch absolut sicher?«
»Ja«, sagte er.
»Da ist etwas…« Sie hielt inne, dann glitt sie von ihrem Stuhl, ließ sich neben Rothen auf die Knie nieder und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Lord Lorlen hat gesagt, dass ich Euch etwas erzählen muss.«
Glossar
Aga-Motten –Schädlinge, die sich von Textilfasern ernähren