Jetzt wusste sie, dass er tatsächlich ein Späher war, und ging weiter. Wenige Schritte von der Tür entfernt blieb sie stehen und tat so, als müsse sie sich ihren Stiefel neu binden.
»Zu wem gehörst du?«, fragte er, ohne sie anzusehen.
»Zu niemandem.«
»Du hast ein altes Zeichen benutzt.«
»Ich war schon einige Zeit nicht mehr hier«, erwiderte sie. »Ich möchte jemanden treffen.«
Der Späher schnaubte abfällig. »Und warum sollte ich dir glauben?«
»Ich habe früher mal Harrin gekannt«, antwortete sie und richtete sich auf.
Der Junge dachte einen Moment lang nach, dann trat er aus dem Hauseingang und packte sie am Arm. »Dann wollen wir doch mal sehen, ob er sich an dich erinnert.«
Soneas Herz setzte einen Schlag aus, als der Junge sie mitten in das Gedränge zerrte. Der Boden war rutschig, und sie wusste, dass sie der Länge nach hinschlagen würde, wenn sie versuchte, sich gegen den Späher zu wehren. Sie murmelte einen Fluch.
»Du brauchst mich nicht zu ihm zu bringen«, erklärte sie. »Sag ihm einfach meinen Namen. Er wird wissen, dass ich ihm nichts Böses will.«
Der Junge beachtete sie gar nicht. Die Wachsoldaten, an denen sie vorbeikamen, warfen ihnen argwöhnische Blicke zu. Sonea versuchte den Arm freizubekommen, aber der Junge war stärker als sie. Er zog sie in eine Nebenstraße.
»Hör mir zu«, sagte sie. »Ich heiße Sonea. Er kennt mich. Und Cery kennt mich auch.«
»Dann wirst du ja nichts dagegen haben, ihn wiederzusehen«, zischte der Junge ihr über die Schulter hinweg zu.
In der Nebenstraße drängten sich die Menschen dicht an dicht, und sie schienen es alle sehr eilig zu haben. Sonea hielt sich an einem Laternenpfosten fest und zwang den Jungen so, stehen zu bleiben.
»Ich kann nicht mit dir gehen. Meine Tante wartet auf mich. Lass mich los…«
Die Menge hatte sich inzwischen auf das untere Ende der Straße zubewegt, und Sonea blickte stöhnend auf.
»Jonna wird mich umbringen.«
Eine lange Reihe von Wachmännern bildete, mit hochgehaltenen Schilden, eine Kette quer über die Straße. Einige Jugendliche liefen vor ihnen auf und ab und riefen Beleidigungen und Schmähungen. Dann warf einer von ihnen einen kleinen Gegenstand nach den Soldaten. Das Wurfgeschoss prallte von einem Schild ab und explodierte zu einer Wolke roten Staubs. Als die Wachen einige Schritte zurückwichen, brachen die Jungen und Mädchen in lauten Jubel aus.
Einige Schritte von ihnen entfernt entdeckte Sonea zwei vertraute Gestalten, beides Männer. Einer von ihnen hatte die Hände in die Hüften gestemmt und war größer und massiger, als Sonea es in Erinnerung gehabt hatte. In den vergangenen zwei Jahren hatte Harrin sein jungenhaftes Aussehen verloren, aber seine ganze Haltung sagte ihr, dass sich davon abgesehen wenig verändert hatte. Er war schon immer der unbestrittene Anführer der Bande gewesen und hatte sich, wenn nötig, schnell mit einem wohlplatzierten Fausthieb Respekt verschafft.
Der Junge neben ihm schien kaum mehr als halb so groß zu sein. Sonea konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Cery war, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, kaum gewachsen, und sie wusste, wie sehr ihn diese Tatsache ärgern musste. Trotz seiner zierlichen Gestalt hatte Cery bei der Bande jedoch stets beträchtliches Ansehen genossen, weil sein Vater für die »Diebe« gearbeitet hatte.
Als der Späher sie näher zu sich heranzog, sah sie, dass Cery einen Finger mit der Zunge befeuchtete, ihn in die Höhe hielt und dann nickte. Harrin rief einen Befehl. Seine Gefolgsleute zogen kleine Bündel aus ihren Kleidern hervor und warfen sie nach den Wachen. Eine rote Wolke erhob sich über den Schilden, und Sonea grinste, während die Männer zu fluchen oder vor Schmerz zu schreien begannen.
Dann trat aus einer Gasse hinter den Soldaten eine einzelne Gestalt auf die Straße hinaus. Sonea blickte auf, und das Blut gefror ihr in den Adern.
»Ein Magier!«, keuchte sie.
Der Junge neben ihr sog scharf die Luft ein. Auch er hatte die in weite Roben gehüllte Gestalt gesehen. »He! Magier!«, rief er. Sowohl die Jugendlichen als auch die Wachen wandten sich dem Neuankömmling zu.
Ein heißer Windschwall schlug ihnen entgegen, und sie taumelten rückwärts. Ein unangenehmer Geruch drang an Soneas Nase, und ihre Augen begannen zu brennen, als ihr der rote Staub ins Gesicht wehte. Dann flaute der Wind abrupt ab, und Stille kehrte ein.
Sonea rieb sich die Tränen aus den Augen und blickte blinzelnd zu Boden, weil sie hoffte, ein wenig sauberen Schnee zu finden, um das Brennen zu lindern. Der Boden um sie herum war von einer glatten Schlammschicht bedeckt, die keine Fußabdrücke aufwies. Aber das konnte nicht sein. Als ihr Blick sich klärte, sah sie, dass sich feine Linien durch den Schlamm zogen – Linien, die allesamt von den Füßen des Magiers ausgingen.
»Lauft!«, brüllte Harrin. Im nächsten Moment sprangen die Jungen und Mädchen von den Wachen weg und rannten an Sonea vorbei. Der Späher stieß einen kurzen, schrillen Schrei aus und lief ihnen nach, wobei er Sonea hinter sich herzerrte.
Ihr Mund wurde trocken, als sie sah, dass sich am anderen Ende der Straße bereits eine weitere Reihe von Soldaten formiert hatte. Es war eine Falle! Und ich habe es fertig gebracht, mich zusammen mit Harrins Bande schnappen zu lassen!
Es blieb ihr nichts anderes übrig, als hinter dem Späher, der ihre Hand fest umklammert hielt, herzulaufen. Als sie sich den Wachen näherten, hoben die Männer in Erwartung eines Kampfes ihre Schilde. Wenige Schritte von den Soldaten entfernt bogen die Jugendlichen in eine Gasse ein. Vor dem ersten der Häuser in dieser Gasse lagen zwei uniformierte Männer am Boden.
»In Deckung!«, erklang eine laute, vertraute Stimme.
Eine Hand packte sie und riss sie so plötzlich zu Boden, dass sie sich die Knie auf den Pflastersteinen aufschlug. Hinter ihr herrschte wilder Aufruhr, und als sie sich umdrehte, sah sie rudernde Arme und erhobene Schilde, die die schmale Lücke zwischen den Gebäuden ausfüllten. Eine Wolke roten Staubs umwogte die Kämpfenden.
»Sonea?«
Die Stimme klang vertraut und voller Erstaunen. Sie blickte auf und lächelte. Cery hockte neben ihr.
»Sie hat mir erzählt, die Wachen würden einen Hinterhalt planen«, sagte der Späher.
Cery nickte. »Das wussten wir bereits.« Langsam breitete sich ein Lächeln auf seinen Zügen aus, dann blickte er über sie hinweg zu den Soldaten hinüber, und das Lächeln verschwand. »Kommt. Es wird Zeit zu gehen!«
Er griff nach ihrer Hand, zog sie auf die Füße und führte sie zwischen den Jugendlichen hindurch, die die Wachen abermals mit Wurfgeschossen bombardierten. Plötzlich zuckte ein Lichtblitz auf und tauchte die Gasse in blendendes Weiß.
»Was war das?«, stieß Sonea hervor. Sie blinzelte heftig, um das Bild von der schmalen Straße zu verscheuchen, das sich auf ihrer Netzhaut eingebrannt zu haben schien.
»Der Magier«, zischte Cery.
»Lauft!«, brüllte Harrin ganz in ihrer Nähe. Halb blind stolperte Sonea weiter. Sie stieß mit jemandem zusammen und fiel der Länge nach hin. Cery packte sie an den Armen, riss sie hoch und führte sie weiter.
Wenige Augenblicke später fand Sonea sich auf der Hauptstraße wieder. Die Mitglieder von Harrins Bande zogen sich die Kapuzen tief ins Gesicht und mischten sich unter die Menge. Sonea folgte ihrem Beispiel, und eine Weile gingen sie und Cery schweigend nebeneinander her. Dann erschien ein hochgewachsener Mann neben Cery und sah Sonea von der Seite an.
»He! Wen haben wir denn da!« Harrins Augen weiteten sich. »Sonea! Was machst du hier?«
Sie lächelte. »Ich lasse mich mal wieder von dir in Schwierigkeiten bringen, Harrin.«
»Sie hat gehört, dass die Wachen einen Hinterhalt planten, und wollte uns warnen«, erklärte Cery.
Harrin machte eine abschätzige Handbewegung. »Wir haben mit so etwas gerechnet und uns vorher einen Fluchtweg zurechtgelegt.«
Sonea dachte an die Wachen, die am Eingang der Gasse gelegen hatten, und nickte. »Ich hätte wissen müssen, dass ihr nicht ahnungslos in die Falle tappen würdet.«