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»Also, wo hast du gesteckt? Wie lange ist das jetzt her? Es müssen Jahre sein…«

»Zwei Jahre. Wir haben im Nordviertel gelebt. Onkel Ranel hatte ein Zimmer in einem Bleibehaus bekommen.«

»Die Miete in den Bleibehäusern soll himmelschreiend überhöht sein, wie ich gehört habe. Und alles kostet das Doppelte, nur weil man innerhalb der Stadtmauern lebt.«

»Das stimmt, aber wir sind zurechtgekommen.«

»Wie denn?«, fragte Cery.

»Indem wir Schuhe und Kleider geflickt haben.«

Harrin nickte. »Deshalb haben wir dich also so lange nicht mehr gesehen.«

Sonea lächelte. Deshalb und weil Jonna verhindern wollte, dass ich mich mit eurer Bande einlasse. Ihre Tante missbilligte Harrin und seine Freunde. Sehr sogar…

»Das klingt ja nicht besonders aufregend«, murmelte Cery.

Sonea sah ihn an und stellte fest, dass er zwar in den letzten Jahren nicht viel gewachsen war, sein Gesicht jedoch das Jungenhafte verloren hatte. Er trug einen neuen Mantel, von dem lose Fäden herabbaumelten, wo er abgeschnitten worden war. Und wahrscheinlich waren in den Taschen und Beuteln im Futter Dietriche, Messer, allerlei Kinkerlitzchen und Süßigkeiten versteckt. Sie hatte sich immer gefragt, was Cery wohl tun würde, wenn er seinen Diebereien entwachsen war.

»Im Bleibehaus war ich jedenfalls sicherer als bei euch«, beschied sie ihm.

Cerys Augen wurden schmal. »Jonnas Gerede.«

Früher einmal hätten diese Worte ihr wehgetan. Jetzt lächelte sie nur. »Jonnas Gerede hat uns aus den Hüttensiedlungen rausgebracht.«

»Also«, fiel Harrin ihr ins Wort. »Wenn du ein Zimmer in einem Bleibehaus hast, warum bist du dann hier?«

Soneas Miene verdüsterte sich. »Der König vertreibt die Leute aus den Bleibehäusern«, antwortete sie. »Er möchte nicht, dass so viele Menschen in einem einzigen Gebäude leben – angeblich weil es unsauber sei. Heute Morgen waren Soldaten da und haben uns rausgeworfen.«

Harrin runzelte die Stirn und murmelte einen Fluch. Als sie sich zu Cery umdrehte, sah sie, dass der neckende Ausdruck in seinen Augen erloschen war. Sie wandte den Blick ab, dankbar für das Verständnis der beiden, aber nicht getröstet.

Mit einem einzigen Wort aus dem Palast war ihr binnen eines Morgens alles genommen worden, wofür sie, ihre Tante und ihr Onkel gearbeitet hatten. Sie hatten nicht einmal Zeit gehabt, über die Konsequenzen dieses Ereignisses nachzudenken, als sie in aller Eile ihre Habe zusammengepackt hatten und im nächsten Moment schon auf die Straße hinausgezerrt worden waren.

»Wo sind Jonna und Ranel jetzt?«, fragte Harrin.

»Sie haben mich vorgeschickt, um festzustellen, ob wir vielleicht ein Zimmer in unserem alten Haus bekommen können.«

Cery sah sie direkt an. »Wenn du nichts findest, komm zu mir.«

Sie nickte. »Danke.«

Die Menge wogte langsam auf einen großen, gepflasterten Bereich zu. Dies war der Nordplatz, auf dem jede Woche ein kleiner Markt abgehalten wurde. Sie und ihre Tante gingen regelmäßig dorthin – oder genauer gesagt, sie hatten es getan.

Inzwischen hatten sich mehrere hundert Menschen auf dem Platz eingefunden. Viele von ihnen gingen weiter durch die Nordtore, andere warteten in der Hoffnung, Freunde und Verwandte zu finden, bevor sie sich dem Chaos der Hüttenviertel überließen. Manche weigerten sich auch, sich von der Stelle zu rühren, bis man sie dazu zwang.

Cery und Harrin blieben am ummauerten Rand des kleinen Teichs in der Mitte des Marktplatzes stehen. Aus dem Wasser erhob sich eine Statue von König Kalpol. Der lange verstorbene Monarch war fast vierzig Jahre alt gewesen, als er die Bergbanditen in die Flucht geschlagen hatte, aber trotzdem wurde er als junger Mann dargestellt. Mit der rechten Hand schwang er ein Abbild seines berühmten juwelenbesetzten Schwerts, und in der linken hielt er einen gleichermaßen kunstvollen Kelch.

Früher einmal hatte eine andere Statue an dieser Stelle gestanden, aber die war vor dreißig Jahren abgerissen worden. Im Laufe der Jahre hatte man verschiedene Statuen von König Terrel errichtet, aber bis auf eine einzige waren sie alle zerstört worden, und es hieß, dass selbst die eine noch existierende Statue, die geschützt hinter den Mauern des Palastes stand, schwer verunstaltet worden war. Trotz all der anderen Dinge, die er getan hatte, würden die Bürger von Imardin König Terrel stets als den Mann in Erinnerung behalten, der die alljährlichen Säuberungen begonnen hatte.

Ihr Onkel hatte ihr die Geschichte viele Male erzählt. Vor dreißig Jahren hatten sich einflussreiche Mitglieder der Häuser darüber beschwert, dass die Straßen nicht sicher seien. Daraufhin hatte der König den Wachsoldaten den Befehl gegeben, alle Bettler aus der Stadt zu vertreiben, ebenso die Vagabunden und alle, die möglicherweise gegen das Gesetz verstoßen hatten. Voller Wut hatten die Stärksten der Verbannten sich zusammengetan und sich mit Waffen, die die wohlhabenderen Schmuggler und Diebe beigesteuert hatten, gegen die Obrigkeit gewehrt. Der König, der sich plötzlich mit Straßenkämpfen und Aufständen konfrontiert sah, hatte sich Hilfe suchend an die Magiergilde gewandt.

Gegen Magie waren die Rebellen machtlos gewesen. Man hatte sie gefangen genommen oder aus der Stadt vertrieben, wo sie außerhalb der äußeren Mauern ihre Hütten errichteten, die dort bald ausgedehnte Siedlungen bildeten. Die Feste, mit denen die Häuser daraufhin die Austreibung der Habenichtse feierten, gefielen dem König so gut, dass er einen Entschluss traf: In Zukunft würde die Stadt jedes Jahr im Winter von Vagabunden gesäubert werden.

Als der alte König vor fünf Jahren gestorben war, hatten viele Menschen gehofft, dass die Säuberungen damit ein Ende nehmen würden, aber Terrels Sohn, König Merin, hatte die Tradition fortgesetzt. Als Sonea sich auf dem Marktplatz umsah, konnte sie sich kaum vorstellen, dass die gebrechlichen, kränkelnden Menschen um sie herum jemals eine Bedrohung darstellen könnten. Dann fiel ihr auf, dass sich einige Jungen um Harrin geschart hatten, die ihren Anführer erwartungsvoll beobachteten. Plötzlich krampfte sich ihr Magen vor Angst zusammen.

»Ich muss gehen«, sagte sie. »Nein, geh nicht«, protestierte Cery. »Wir haben einander doch gerade erst wiedergefunden.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich war schon viel zu lange weg. Jonna und Ranel sind vielleicht schon außerhalb der Stadtmauern.«

»Dann steckst du ohnehin in Schwierigkeiten.« Cery zuckte die Achseln. »Du hast immer noch Angst vor Jonnas Strafpredigten, wie?«

Sie warf ihm einen tadelnden Blick zu. Cery, den das nicht im Mindesten aus dem Gleichgewicht brachte, antwortete ihr mit einem Lächeln.

»Hier.« Er drückte ihr etwas in die Hand. Es war ein kleines, in Papier gewickeltes Päckchen.

»Ist das das Zeug, mit dem ihr die Wachen bewerft?«

Cery nickte. »Papea-Staub«, sagte er. »Brennt in den Augen und verursacht einen hübschen Ausschlag.«

»Aber gegen Magier wird euch das nicht helfen.«

Er grinste. »Einmal habe ich einen erwischt. Er hat mich nicht kommen sehen.«

Sonea wollte Cery das Päckchen zurückgeben, aber dieser wehrte ab.

»Behalte es«, sagte er. »Hier kann ich ohnehin nichts damit anfangen. Die Magier errichten immer eine Mauer.«

Sonea schüttelte den Kopf. »Also werft ihr stattdessen mit Steinen? Warum spart ihr euch die Mühe nicht?«

»Es tut gut.« Cery sah wieder zu der Straße hinüber, und seine Augen nahmen einen stählernen Grauton an. »Wenn wir es nicht täten, könnten wir genauso gut erklären, dass uns die Säuberungen nichts ausmachen. Wir dürfen uns nicht aus der Stadt vertreiben lassen, ohne zumindest irgendwie darauf zu reagieren, findest du nicht auch?«

Achselzuckend sah sie Harrins Jungen an. Ihre Augen leuchteten erwartungsvoll. Sonea war es immer sinnlos und töricht erschienen, die Magier mit irgendetwas zu bewerfen.

»Aber ihr beide, du und Harrin, ihr kommt doch kaum je einmal in die Stadt«, wandte sie ein.

»Trotzdem sollten wir es tun können, wenn wir wollen.« Cery grinste. »Und die Säuberungen sind die einzige Gelegenheit, bei der wir Ärger machen können, ohne dass die Diebe ihre Nase in unsere Angelegenheiten stecken.«