Sonea verdrehte die Augen. »Das ist es also.«
»He! Gehen wir!«, brüllte Harrin über das Lärmen der Menge hinweg.
Als seine Jungen sich mit lautem Gejohle in Bewegung setzten, sah Cery Sonea fragend an.
»Komm mit«, drängte er sie. »Das wird lustig.«
Sonea schüttelte den Kopf.
»Du brauchst ja nicht mitzumachen. Sieh einfach nur zu«, sagte er. »Danach komme ich mit dir und sorge dafür, dass du ein Quartier findest.«
»Aber…«
»Hier.« Er streckte die Hand aus und knotete ihr Halstuch auf. Dann faltete er es zu einem Dreieck, legte es ihr um den Kopf und band es unter ihrem Kinn fest. »So, jetzt siehst du mehr wie ein Mädchen aus. Selbst wenn die Wachen auf die Idee kommen sollten, uns zu jagen – was sie niemals tun –, würden sie dich nicht für einen Unruhestifter halten. Hm.« Er tätschelte ihre Wange. »Schon viel besser. Jetzt komm. Ich werde dich nicht noch einmal verschwinden lassen.«
Sie seufzte. »Na schön.«
Die Menge war angewachsen, und Harrins Bande drängte sich zwischen den Menschen hindurch nach vorn. Zu Soneas Überraschung stießen sie auf keinerlei Protest; niemand schien ihnen ihr ungestümes Verhalten zu verübeln. Stattdessen drückten ihr die Männer und Frauen, an denen sie vorbeikam, Steine und überreife Früchte in die Hand und flüsterten ihr Ermutigungen zu. Erregung stieg in ihr auf, als sie die erwartungsvollen Mienen der anderen sah. Vernünftige Leute wie ihre Tante und ihr Onkel hatten den Nordplatz bereits verlassen. Wer übrig geblieben war, wollte einen Kampf sehen – auch wenn er noch so sinnlos war.
Zum Rand hin wurde die Menschenmenge dünner. Wenn Sonea zur einen Seite blickte, konnte sie sehen, dass aus einer Nebenstraße immer noch Menschen auf den Platz strömten. Auf der anderen Seite erhoben sich die fernen Tore über der Menge. Und vor ihr…
Sonea hielt inne, und ihre Zuversicht löste sich in nichts auf. Cery ging weiter, aber sie trat einige Schritte zurück und blieb hinter einer älteren Frau stehen. Keine zwanzig Meter von ihnen entfernt hatten sich Magier zu einer Reihe aufgestellt.
Sie holte tief Luft und atmete langsam aus. Sie wusste, dass die Magier sich nicht von der Stelle bewegen würden. Sie würden die Menge ignorieren, bis sie so weit waren, sie vom Marktplatz zu vertreiben. Es gab keinen Grund, Angst zu haben.
Sonea schluckte und zwang sich, den Blick abzuwenden und nach ihren Gefährten Ausschau zu halten. Harrin, Cery und die anderen bewegten sich weiter vorwärts; inzwischen war ihre Gruppe deutlich kleiner geworden.
Schließlich wandte Sonea sich schaudernd wieder zu den Magiern um. Sie war ihnen noch nie zuvor so nahe gekommen, ebenso wenig wie sie je eine Gelegenheit gehabt hatte, sie gründlicher zu betrachten.
Sie trugen eine Uniform: Roben mit weiten Ärmeln, die in der Taille mit einer Schärpe gegürtet wurden. Ihrem Onkel Ranel zufolge waren solche Kleider vor Jahrhunderten in Mode gewesen, aber heutzutage war es für gewöhnliche Menschen ein Verbrechen, sich zu kleiden wie ein Magier.
Es waren ausnahmslos Männer. Von ihrem Platz aus konnte sie insgesamt neun von ihnen zählen, die allein oder paarweise dastanden und einen Teil der Linie bildeten, von der sie wusste, dass sie den ganzen Marktplatz umfasste. Einige der Magier waren nicht älter als zwanzig, während andere uralt aussahen. Einer der Magier, die ihr am nächsten standen, war ein blonder Mann von etwa dreißig Jahren, und er war auf eine glatte, gepflegte Art und Weise attraktiv. Die anderen sahen überraschend gewöhnlich aus.
Aus den Augenwinkeln nahm sie eine abrupte Bewegung wahr und drehte sich gerade rechtzeitig um, um zu sehen, wie Harrin den Arm hochriss. Ein Stein flog durch die Luft auf die Magier zu. Obwohl sie wusste, was geschehen würde, hielt Sonea den Atem an.
Der Stein prallte auf etwas Hartes, Unsichtbares und fiel zu Boden. Sonea stieß langsam die Luft aus, während immer mehr junge Leute Steine warfen. Einige der Magier blickten auf, um zu beobachten, wie die Wurfgeschosse gegen die Luft vor ihnen prasselten. Andere musterten ihre Angreifer nur kurz und wandten sich dann wieder ihren Gesprächen zu.
Sonea starrte die Stelle an, wo die Barriere der Magier hing. Sie konnte nichts sehen. Schließlich machte sie einen Schritt nach vorn, nahm einen der Klumpen aus ihrer Tasche, riss den Arm hoch und schleuderte ihr Wurfgeschoss mit aller Kraft durch die Luft. Es zerfiel, als es auf die unsichtbare Mauer traf, und einen Moment lang hing eine Staubwolke in der Luft.
Sie hörte dicht hinter sich ein leises Kichern und drehte sich um. Die alte Frau grinste sie an.
»Ein guter Wurf«, murmelte sie glucksend. »Zeig’s ihnen. Mach weiter.«
Sonea schob eine Hand in die Tasche und ertastete einen größeren Stein. Sie trat einige Schritte auf die Magier zu und lächelte. In ein paar Gesichtern spiegelte sich Ärger wider. Sie schätzten es offensichtlich nicht, wenn man ihnen trotzte, aber irgendetwas hielt sie davon ab, den Kampf gegen die jungen Leute aufzunehmen.
Stimmen durchdrangen den Dunstschleier. Der gut aussehende Magier blickte auf, dann wandte er sich wieder seinem Gefährten zu, einem alten Mann mit grau gesträhntem Haar.
»Jämmerliches Ungeziefer«, höhnte er. »Wie lange müssen wir noch warten, bis wir sie verscheuchen können?«
Etwas in Soneas Magen krampfte sich zusammen, und sie umklammerte den Stein fester. Dann zog sie ihn aus der Tasche und wog sein Gewicht in der Hand. Ein ziemlich schwerer Stein. Sie drehte sich zu den Magiern um, griff nach ihrer Wut darüber, aus ihrem Heim vertrieben worden zu sein, griff nach ihrem tief verwurzelten Hass auf die Magier und warf den Stein nach dem Mann, der gesprochen hatte. Sie verfolgte den Flug des Steins durch die Luft, und als er sich der Barriere der Magier näherte, legte sie ihre ganze Willenskraft in den einen Gedanken, dass der Stein den Schild durchdringen und sein Ziel treffen möge.
Blaues Licht kräuselte sich auf dem Schild und lief wie Wasser daran entlang. Dann krachte der Stein mit einem dumpfen Aufprall gegen die Schläfe des Magiers. Der Mann erstarrte und blickte ins Leere. Dann gaben die Knie unter ihm nach, und sein Gefährte trat vor, um ihn aufzufangen.
Sonea starrte den älteren Magier, der seinen Gefährten vorsichtig auf den Boden bettete, mit weit geöffnetem Mund an. Das Geschrei der Menschen erstarb. Stille breitete sich wie Rauch in der Menge aus.
Dann wurden Rufe laut, als zwei weitere Magier herbeisprangen, um neben ihrem am Boden liegenden Gefährten in die Hocke zu gehen. Harrins Freunde und viele andere brachen in Jubel aus. Plötzlich war die Stille durchbrochen, während die Menschen einander zuriefen, was soeben geschehen war.
Sonea blickte auf ihre Hände hinab. Es hat funktioniert. Ich habe die Barriere durchbrochen, aber das ist unmöglich, es sei denn...
Es sei denn, ich hätte Magie benutzt.
Kälte durchströmte sie, als sie daran dachte, wie sie all ihren Zorn und ihren Hass in den Stein hineingegeben, wie sie seinen Flug verfolgt und versucht hatte, ihn mit purer Willenskraft dazu zu bringen, die Barriere zu durchbrechen. Etwas regte sich in ihr, als wolle es sie dazu treiben, ihr Tun zu wiederholen.
Als sie aufblickte, sah sie, dass sich mehrere Magier um ihren gefallenen Kameraden geschart hatten. Einige hockten neben ihm, aber die meisten starrten mit forschendem Blick in die Menge. Sie suchen nach mir, dachte Sonea plötzlich. Als hätte er ihren Gedanken gehört, drehte einer der Männer sich zu ihr um und sah sie an. Sie erstarrte vor Entsetzen, aber dann wanderte sein Blick weiter durch die Menge.
Sie wissen nicht, wer es war. Sie seufzte erleichtert. Dann stellte sie plötzlich fest, dass die Menge mehrere Schritte zurückgewichen war. Auch Harrins Freunde zogen sich langsam zurück. Mit hämmerndem Herzen folgte sie ihrem Beispiel.