Dann erhob sich der ältere Magier. Im Gegensatz zu den anderen fiel sein Blick ohne eine Spur des Zögerns auf Sonea. Er deutete mit dem Finger in ihre Richtung, und die übrigen Magier wandten sich wieder um. Als sie die Hände hoben, stieg heiße Panik in Sonea auf. Sie wirbelte herum und rannte auf die Menge zu. Jetzt ergriffen auch die übrigen jungen Leute die Flucht. Einen Moment lang war Sonea fast blind, als mehrere Lichtblitze in schneller Folge die Gesichter um sie herum beleuchteten, dann gellten Schreie durch die Luft. Eine Woge heißer Luft überspülte sie, und sie fiel keuchend auf die Knie.
»HALT!«
Sie verspürte keinen Schmerz. Als sie an sich hinabblickte, stellte sie zu ihrer Erleichterung fest, dass sie unverletzt war. Um sie herum rannten die Menschen immer noch in wilder Flucht davon, ohne auf den seltsam verstärkten Befehl zu achten, dessen Echo noch immer über dem Marktplatz hing.
Brandgeruch drang an Soneas Nase. Als sie sich umdrehte, sah sie einige Schritte entfernt eine Gestalt mit dem Gesicht nach unten auf dem Pflaster liegen. Obwohl Flammen hungrig an den Kleidern züngelten, war die Gestalt vollkommen reglos. Dann sah sie die geschwärzte Masse, die früher einmal ein Arm gewesen war, und Übelkeit krampfte ihr den Magen zusammen.
»TUT IHR NICHTS!«
Sie rappelte sich mühsam hoch und taumelte von dem Leichnam weg. Dann nahm sie all ihre Kraft zusammen und zwang sich, hinter den letzten von Harrins Freunden herzulaufen, die vom Marktplatz flohen.
Am Nordtor holte sie die anderen ein und benutzte die Ellbogen, um sich in das Gedränge zu mischen. Sie konnte die schweren Steine in ihren Taschen spüren und riss sie in blinder Panik heraus. Ihre Beine prallten gegen ein Hindernis, und sie stolperte, aber sofort zog sie sich wieder auf die Füße und rannte weiter.
Plötzlich wurde sie von groben Händen gepackt. Sie setzte sich zur Wehr und holte Atem, um zu schreien, aber die Hände drehten sie um, und mit einem Mal blickte sie in Harrins vertraute blaue Augen.
2
Die Debatte der Magier
Obwohl er die Gildehalle seit seinem Abschluss vor mehr als dreißig Jahren schon ungezählte Male betreten hatte, hatte Lord Rothen dort nur selten ein solches Stimmengewirr gehört.
Er betrachtete das Meer von in Roben gekleideten Männern und Frauen vor sich. Die Magier hatten sich zu Gruppen zusammengefunden, und wie immer waren es dieselben Zirkel, die beisammen standen. Andere Magier schlenderten durch die Halle und wanderten von einer Gruppe zur nächsten. Sie unterhielten sich mit ausladenden Gesten, und ab und an erhob sich ein entrüsteter Ausruf über den Lärm.
Gildeversammlungen waren im Allgemeinen würdevolle, wohlgeordnete Angelegenheiten, aber bis zur Ankunft des Administrators, der für Ruhe sorgen würde, würde weiter Durcheinander herrschen. Als Rothen auf die Menge zuging, schnappte er Bruchstücke von Gesprächen auf, die vom Dach herunterzuwehen schienen. Die Gildehalle verstärkte Geräusche auf seltsame und unerwartete Art und Weise, besonders dann, wenn lauter als gewöhnlich gesprochen wurde.
Dieses Phänomen hatte nichts mit Magie zu tun, wie unbegabte Besucher häufig annahmen, sondern war ein unbeabsichtigtes Resultat des Umbaus dieses alten Gebäudes zu einem großen Saal. Früher einmal hatte es in diesem ersten und ältesten Bau der Gilde zahlreiche Räume zur Unterbringung von Magiern und ihren Lehrlingen gegeben sowie Säle für Lektionen und Zusammenkünfte. Vier Jahrhunderte später hatte die Gilde angesichts einer schnell wachsenden Mitgliederzahl mehrere neue Gebäude errichtet. Da sie jedoch ihr erstes nicht hatte zerstören wollen, war man auf die Idee gekommen, daraus einfach die Innenwände zu entfernen und für zusätzliche Sitzplätze zu sorgen, um dort die Gildeversammlungen, die Aufnahme- und Abschlusszeremonien sowie die Anhörungen stattfinden zu lassen.
Jetzt löste sich ein hochgewachsener, in purpurne Roben gewandeter Mann aus der Menge und kam auf Rothen zu. Als Rothen den eifrigen Gesichtsausdruck des jüngeren Magiers sah, lächelte er – Dannyl hatte sich mehr als einmal darüber beklagt, dass in der Gilde niemals etwas besonders Aufregendes geschah.
»Nun, mein alter Freund. Wie ist es gelaufen?«, fragte Dannyl.
Rothen verschränkte die Arme vor der Brust. »Alter Freund, wahrhaftig!«
»Dann eben alter Feind.« Dannyl machte eine abschätzige Handbewegung. »Was hat der Administrator gesagt?«
»Nichts. Er hat sich nur von mir beschreiben lassen, was vorgefallen ist. Wie es aussieht, bin ich der Einzige, der sie gesehen hat.«
»Dann kann sie sich glücklich schätzen«, erwiderte Dannyl. »Warum haben die anderen versucht, sie zu töten?«
Rothen schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass sie das beabsichtigt haben.«
Ein Gong übertönte das Summen der Gespräche, und dann erfüllte die verstärkte Stimme des Gildeadministrators die Halle.
»Würden bitte alle Magier ihre Plätze einnehmen!«
Rothen sah, dass die großen Haupttüren im hinteren Teil der Halle sich geschlossen hatten. Das Meer der Roben teilte sich, während die Magier auf ihre Plätze zu beiden Seiten des Raums zustrebten.
»Wir haben heute seltene Gesellschaft«, bemerkte Dannyl.
Rothen folgte dem Blick seines Freundes. Die Höheren Magier setzten sich. Zum Zeichen ihrer Position und Autorität innerhalb der Gilde waren ihre Plätze in fünf Reihen an der Stirnseite der Halle untergebracht. Man erreichte die erhöhten Sitze über zwei schmale Treppen. In der Mitte der höchsten Reihe stand ein mit Gold beschlagener Thron, in dessen Polster das Signum des Königs eingestickt war: ein stilisierter Nachtvogel. Der Thron war leer, aber auf den beiden Plätzen links und rechts davon saßen Magier, die goldfarbene Schärpen um die Taille trugen.
»Die Ratgeber des Königs«, murmelte Rothen. »Interessant.«
»Ja«, erwiderte Dannyl. »Ich hatte mich schon gefragt, ob König Merin diese Versammlung für wichtig genug halten würde, um selbst daran teilzunehmen.«
»Nicht wichtig genug, um persönlich zu erscheinen, nein.«
»Natürlich nicht.« Dannyl lächelte. »Dann müssten wir uns ja benehmen.«
Rothen zuckte die Achseln. »Es macht keinen Unterschied, Dannyl. Selbst wenn die Ratgeber nicht hier wären, würde keiner von uns etwas sagen, was er nicht auch in Gegenwart des Königs gesagt hätte. Nein, die beiden sind hier, um dafür zu sorgen, dass wir mehr tun, als nur über das Mädchen zu reden.«
Als sie ihre gewohnten Plätze erreicht hatten, setzten sie sich. Dannyl lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Und das alles für ein einziges schmutziges Straßenkind.«
Rothen kicherte. »Sie hat einen hübschen Aufruhr verursacht, nicht wahr?«
»Fergun ist noch nicht erschienen.« Dannyl betrachtete mit schmalen Augen die Stuhlreihen an der gegenüberliegenden Wand. »Aber seine Gefolgsleute sind da.«
Obwohl Rothen es nicht billigte, dass sein Freund sich in der Öffentlichkeit abfällig über einen anderen Magier äußerte, konnte er sich eines Lächelns nicht erwehren. Ferguns selbstgefälliges Gehabe trug ihm keine Sympathie bei anderen ein. »Dem Bericht des Heilers zufolge hat der Schlag beträchtliche Verwirrung und Erregung ausgelöst. Der Heiler hielt es für klug, Fergun ein Beruhigungsmittel zu verabreichen.«
Dannyl stieß einen Laut puren Entzückens aus. »Fergun schläft! Wenn ihm klar wird, dass er diese Versammlung verpasst hat, wird er fuchsteufelswild sein!«
Abermals erklang der Gong, und Stille senkte sich über den Raum.
»Und wie du dir sicher vorstellen kannst, war Administrator Lorlen sehr enttäuscht darüber, dass Lord Fergun seine Version der Ereignisse nicht wird vortragen können«, fügte Rothen leise hinzu.
Dannyl hatte Mühe, nicht laut aufzulachen. Inzwischen hatten die Höheren Magier, wie Rothen feststellte, alle ihre Plätze eingenommen. Nur Administrator Lorlen stand noch, einen Gong in der einen Hand, einen Klöppel in der anderen.
Lorlens Miene war ungewöhnlich ernst. Rothens Heiterkeit verflog im Nu, als ihm bewusst wurde, dass dies die erste Krise war, die der andere Magier seit seiner Wahl meistern musste. Lorlen hatte unter Beweis gestellt, dass er mit den alltäglichen Belangen der Gilde durchaus fertig zu werden wusste, aber gewiss stellten sich in diesem Augenblick nicht wenige Magier die Frage, wie der Administrator an ein Problem wie dieses herangehen würde.