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»Aber warum sollte sie dann überhaupt einen Stein benutzen?«, hakte Lady Vinara nach. »Warum hat sie nicht einfach mit Magie geschlagen?«

»Vielleicht um den Schlag zu verbergen?«, meinte Lord Sarrin. »Wenn die Magier den Schlag hätten kommen sehen, hätten sie vielleicht Zeit gehabt, den Schild zu stützen.«

»Das ist möglich«, sagte Balkan, »aber die Wucht des Schlages wurde einzig dazu benutzt, die Barriere zu durchdringen. Wenn die Angreiferin in böser Absicht gehandelt hätte, hätte Lord Fergun Schlimmeres davongetragen als eine Prellung an der Schläfe.«

Vinara runzelte die Stirn. »Dann hat diese Angreiferin also nicht damit gerechnet, dass sie einen großen Schaden anrichten würde? Warum hat sie es dann überhaupt getan?«

»Um ihre Macht zu demonstrieren. Und vielleicht, um uns zu trotzen«, erwiderte Balkan.

Sarrins Gesicht legte sich in missbilligende Falten. Rothen schüttelte den Kopf. Balkan, der diese Bewegung beobachtete, lächelte. »Ihr seid nicht unserer Meinung, Lord Rothen?«

»Sie hat nicht damit gerechnet, dass sie überhaupt etwas bewirken würde«, erklärte Rothen. »Ihrem Gesichtsausdruck nach war sie unzweifelhaft schockiert und überrascht über das, was sie getan hatte. Ich glaube, dass sie gar nicht ausgebildet ist.«

»Unmöglich.« Sarrin hob abwehrend die Hand. »Irgendjemand muss ihre Kräfte entfesselt haben.«

»Und wir wollen hoffen, dass dieser Jemand ihr auch beigebracht hat, wie sie sie kontrollieren kann«, fügte Vinara hinzu. »Oder wir haben es mit einem ganz anderen und sehr ernsten Problem zu tun.«

In der Halle erhob sich ein nervöses Raunen. Lorlen hob die Hand, und jäh wurde es wieder still.

»Als Lord Rothen mir von seinen Beobachtungen erzählte, habe ich Lord Solend zu mir gebeten. Er hat die Geschichte der Gilde gründlich studiert, und ich habe ihn gefragt, ob er jemals von Magiern gelesen habe, deren Kräfte sich ohne Hilfe entwickelt hätten.« Lorlens Miene war sehr ernst. »Wir sind bisher immer davon ausgegangen, dass nur ein anderer Magier die Kräfte eines Magiers entfesseln kann. Aber wie es aussieht, ist das ein Irrtum. In den Unterlagen über die frühen Jahrhunderte der Existenz der Gilde finden sich Hinweise darauf, dass einzelne Personen, die um Ausbildung baten, bereits zuvor Magie benutzt hatten. Ihre Kräfte hatten sich im Laufe des körperlichen Reifungsprozesses auf natürliche Weise entwickelt. Da wir Novizen schon in sehr jungen Jahren aufnehmen und initiieren, kommt es nicht länger zu einer solchen natürlichen Entwicklung magischen Potenzials.« Lorlen wandte sich zur Seite. »Lord Solend hat auf meinen Wunsch hin alle ihm vorliegenden Informationen über dieses Phänomen zusammengetragen. Ich möchte ihn jetzt bitten, uns die Ergebnisse seiner Arbeit vorzutragen.«

Ein älterer Mann erhob sich und stieg die Treppe hinunter. Alle anderen Magier warteten schweigend, bis der alte Historiker in der Mitte des Saales angekommen war und sich schlurfend zu Rothen gesellt hatte. Er verbeugte sich steif vor den Höheren Magiern, bevor er zu sprechen begann.

»Bis vor fünfhundert Jahren«, erklärte der alte Mann mit mürrischer Stimme, »war es üblich, dass ein Mann oder eine Frau, wenn sie die Magie erlernen wollten, an einzelne Magier herantraten, um eine Lehre bei ihnen zu beginnen. Sie wurden geprüft und danach ausgewählt, wie stark sie waren und wie viel sie bezahlen konnten. Aufgrund dieser Tradition waren einige Lehrlinge schon in reiferem Alter, als sie ihre Ausbildung begannen, da es vieler Jahre Arbeit und eines großzügigen Erbes bedurfte, bevor sie in der Lage waren, für ihre Ausbildung aufzukommen. Manchmal jedoch erschien ein junger Mann oder eine junge Frau, deren Kräfte bereits ›gelöst‹ waren, wie man es damals ausdrückte. Diese Personen, die man ›Naturtalente‹ nannte, wurden niemals abgewiesen. Dafür gab es zwei Gründe. Zum einen waren ihre Kräfte immer sehr stark. Zum anderen musste man sie die Kontrolle ihrer Kräfte lehren.« Der alte Mann hielt inne, und seine Stimme klang jetzt ein wenig schriller. »Wir wissen bereits, was geschieht, wenn Novizen außerstande sind, die Kontrolle zu meistern. Falls es sich bei dieser jungen Frau um ein magisches Naturtalent handelt, müssen wir davon ausgehen, dass sie stärker ist als unsere durchschnittlichen Novizen, vielleicht sogar stärker als durchschnittliche Magier. Wenn man sie nicht findet und Kontrolle lehrt, wird sie zu einer großen Gefahr für die Stadt.«

Kurzes Schweigen folgte, dann ging ein bestürztes Summen durch die Halle.

»Falls ihre Kräfte sich tatsächlich von selbst entwickelt haben sollten«, bemerkte Balkan.

Der alte Historiker nickte. »Es besteht natürlich die Möglichkeit, dass sie von irgendjemandem ausgebildet wurde.«

»Dann müssen wir sie finden – und denjenigen, der sie unterwiesen hat«, rief einer der Magier.

Abermals breitete sich Unruhe aus, bis Lorlen wieder das Wort ergriff. »Falls sie eine wilde Magierin ist, sind wir vom Gesetz dazu verpflichtet, sie und ihre Lehrer vor den König zu bringen. Wenn sie eine natürliche Magierin ist, müssen wir sie Kontrolle lehren. So oder so, wir müssen sie finden.«

»Wie?«, rief jemand.

Lorlen blickte hinab. »Lord Balkan?«

»Eine systematische Durchsuchung der Hüttensiedlungen«, erwiderte der Krieger. Dann wandte er sich an die Ratgeber des Königs. »Wir werden Hilfe benötigen.«

Lorlen zog die Brauen in die Höhe und folgte dem Blick des Kriegers. »Die Gilde erbittet hiermit offiziell die Unterstützung durch die Städtische Garde.«

Die beiden Ratgeber sahen einander an und nickten. »Sie sei gewährt«, erwiderte einer von ihnen.

»Wir sollten so schnell wie möglich beginnen«, erklärte Balkan. »Vorzugsweise noch heute Abend.«

»Wenn wir die Hilfe der Garde wollen, wird das einige Zeit dauern. Ich schlage vor, dass wir morgen früh beginnen«, erwiderte Lorlen.

»Was ist mit dem Unterricht?«, rief jemand.

Lorlen sah die Magier an, die neben ihm saßen. »Ich denke, ein zusätzlicher Tag für private Studien wird die Fortschritte der Novizen nicht beeinträchtigen.«

»Ein Tag wird keinen großen Unterschied machen.« Der mürrische Rektor der Universität, Jerrik, zuckte die Achseln. »Aber werden wir sie binnen eines Tages finden?«

Lorlen schürzte die Lippen. »Falls wir sie bis morgen Abend nicht gefunden haben, werden wir erneut zusammenkommen, um darüber zu beraten, wer die Suche fortsetzen soll.«

»Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte, Administrator Lorlen?«

Rothen drehte sich überrascht um, als er die Stimme hörte. Dannyl trat vor.

»Ja, Lord Dannyl?«, fragte Lorlen.

»Die Hüttenleute werden unsere Suche sicher behindern, und das Mädchen wird sich wahrscheinlich vor uns verstecken. Wir haben vielleicht bessere Erfolgschancen, wenn wir in Verkleidung in ihre Viertel gehen.«

Lorlen runzelte die Stirn. »Welche Art von Verkleidung würdet Ihr denn vorschlagen?«

Dannyl hob die Schultern. »Je unauffälliger wir sind, desto größer sind unsere Chancen auf Erfolg. Ich möchte vorschlagen, dass zumindest einige von uns sich so kleiden, wie die Hüttenleute es tun. Wenn wir mit ihnen sprechen, werden sie wahrscheinlich wissen, wer wir sind, aber –«

»Auf keinen Fall«, knurrte Balkan. »Was würde passieren, wenn einer von uns in der Verkleidung eines greinenden Bettlers entdeckt würde? Wir würden uns überall in den Verbündeten Ländern zum Gespött machen.«

Mehrere der Magier stimmten ihm lautstark zu.

Lorlen nickte langsam. »Ich gebe Lord Balkan Recht. Als Magier haben wir die Befugnis, jedes Haus dieser Stadt zu betreten. Unsere Suche würde behindert werden, wenn wir keine Roben tragen.«