»Woher werden wir wissen, wonach wir Ausschau halten sollen?«, erkundigte sich Vinara.
Lorlen blickte zu Rothen hinunter. »Erinnert Ihr Euch daran, wie Sie ausgesehen hat?«
Rothen nickte. Er trat einige Schritte zurück, schloss die Augen und beschwor die Erinnerung an ein kleines, mageres Mädchen mit schmalem, kindlichem Gesicht herauf. Dann griff er nach dem Quell seiner Kraft, öffnete die Augen wieder und ließ in der Luft vor sich ein Leuchten erscheinen, das sich schnell zu einem leicht durchsichtigen Gesicht formte. Als seine Erinnerung dem Bild die übrigen Einzelheiten beisteuerte, erschienen auch die groben Kleider des Mädchens: ein ausgeblichenes Halstuch um ihren Kopf, ein dickes Kapuzenhemd, Hosen. Als die Illusion vollständig war, blickte er zu den Höheren Magiern auf.
»Das ist das Mädchen, das uns angegriffen hat?«, knurrte Balkan. »Sie ist kaum mehr als ein Kind.«
»Ein kleines Paket mit einer großen Überraschung darin«, bemerkte Sarrin trocken.
»Und wenn sie nicht die Angreiferin ist?«, wollte Jerrik wissen. »Was ist, wenn Lord Rothen sich irrt?«
Lorlen sah Rothen an und lächelte schwach. »Für den Augenblick können wir nur davon ausgehen, dass seine Beobachtungen zutreffend sind. Wir werden schon bald mehr wissen, wenn die Klatschbasen der Stadt mitmachen und man weitere Zeugen findet.« Er deutete mit dem Kopf auf die Illusion. »Das genügt, Lord Rothen.«
Rothen machte eine knappe Handbewegung, und die Illusion erlosch. Als er wieder aufsah, begegnete er dem abschätzenden Blick Lord Sarrins.
»Was tun wir, wenn wir sie gefunden haben?«, fragte Vinara.
»Wenn sie eine wilde Magierin ist, werden wir das Gesetz anwenden«, antwortete Lorlen. »Wenn nicht, werden wir sie lehren, ihre Kräfte zu kontrollieren.«
»Ja, natürlich, aber danach? Was dann?«
»Ich denke, die Frage, die Lady Vinara stellt, ist folgende: Sollen wir sie zu einer von uns machen?«, warf Balkan ein.
Sofort war die Halle erfüllt von Stimmengewirr.
»Nein! Sie ist wahrscheinlich eine Diebin!«
»Sie hat einen der unseren angegriffen! Sie sollte bestraft und nicht belohnt werden!«
Rothen schüttelte den Kopf und seufzte, während immer neue Proteste laut wurden. Obwohl kein Gesetz es untersagte, Kinder niederer Klassen zu prüfen, war die Gilde bestrebt, nur die Kinder der Häuser in Magie zu unterweisen.
»Die Gilde hat seit Jahrhunderten keinen Novizen von außerhalb der Häuser angenommen«, sagte Balkan leise.
»Aber wenn Solend Recht hat, könnte sie eine ungewöhnlich starke Magierin sein«, rief Vinara ihm ins Gedächtnis.
Rothen unterdrückte ein Lächeln. Die meisten weiblichen Magier wurden Heilerinnen, und er wusste, dass Lady Vinara die Herkunft des Mädchens nur allzu gern übersehen würde, wenn sie auf diese Weise eine weitere starke Helferin gewann.
»›Stärke ist kein Segen, wenn ein Magier sich als verderbt erweist‹«, zitierte Sarrin. »Sie könnte eine Diebin sein oder sogar eine Hure. Welchen Einfluss würde jemand wie sie auf unsere anderen Novizen haben? Woher sollen wir wissen, ob sie unserem Gelöbnis treu bleiben würde?«
Vinara zog die Brauen in die Höhe. »Also wollt Ihr ihr zeigen, wozu sie in der Lage ist, und dann ihre Kräfte binden und sie in die Armut zurückschicken?«
Sarrin nickte. Vinara sah Balkan an, der nur die Schultern hob. Rothen zwang sich, Stillschweigen zu bewahren. Lorlen betrachtete mit ausdrucksloser Miene die drei Magier, die in der Reihe unter ihm saßen.
»Wir sollten ihr zumindest eine Chance geben«, erklärte Vinara. »Wenn auch nur die geringste Möglichkeit besteht, dass sie sich an unsere Regeln halten und zu einer verantwortungsbewussten jungen Frau heranwachsen wird, sollten wir ihr die Möglichkeit dazu geben.«
»Je weiter sich ihre Kräfte entwickeln, umso schwieriger wird es sein, sie zu binden«, erinnerte Sarrin sie.
»Ich weiß.« Vinara beugte sich vor. »Aber es ist nicht unmöglich. Bedenkt auch, wie sehr es unserem Ansehen zugute käme, wenn wir das Mädchen aufnehmen würden. Eine großzügige Geste wie diese würde den Schaden, den unser Ruf heute erlitten hat, wohl eher wieder gutmachen als der Versuch, ihre Kräfte zu binden, um sie dann wieder in die Vorstadt zurückzuschicken.«
Balkan hob die Augenbrauen. »Das stimmt. Außerdem würde uns das vielleicht die Mühe ersparen, nach ihr suchen zu müssen. Wenn sie erfährt, dass sie eine Magierin werden kann, mit all dem damit verbundenen Ansehen und Wohlstand, wird sie aus freien Stücken zu uns kommen.«
»Und sollte sie jemals in Erwägung ziehen, in ihre früheren schändlichen Gewohnheiten zurückzufallen, könnte sie der Verlust dieses Wohlstands durchaus dazu bewegen, unserem Schwur die Treue zu halten«, warf Sarrin ein.
Lady Vinara nickte. Sie sah sich in der Halle um, dann wanderte ihr Blick zu Rothen, und ihre Augen wurden schmal. »Was sagt Ihr dazu, Lord Rothen?«
Rothen schnitt eine Grimasse. »Ich frage mich, ob sie uns nach den Ereignissen von heute Morgen überhaupt Glauben schenken wird.«
Balkans Miene verdüsterte sich. »Hm, das möchte ich bezweifeln. Wahrscheinlich werden wir sie zuerst gefangen nehmen müssen und ihr anschließend unsere guten Absichten erläutern.«
»Dann hat es wenig Sinn, abzuwarten, ob sie freiwillig zu uns kommt«, stellte Lorlen fest. »Wir werden morgen wie geplant mit der Suche beginnen.« Er schürzte die Lippen, dann wandte er sich zu dem Platz über seinem um.
Rothen blickte auf. Zwischen dem Stuhl des Administrators und dem Thron des Königs war ein einzelner Platz für den Führer der Gilde reserviert: den Hohen Lord Akkarin. Der schwarzgewandete Magier hatte während der ganzen Versammlung kein Wort gesagt, aber das war nichts Ungewöhnliches. Obwohl Akkarin bisweilen den Verlauf einer Debatte mit einigen wenigen milden Worten beeinflusst hatte, bewahrte er in den meisten Fällen Stillschweigen.
»Hoher Lord, habt Ihr Grund zu der Vermutung, dass es in den Hüttenvierteln wilde Magier gibt?«, fragte Lorlen.
»Nein. Es gibt keine wilden Magier in den Hüttensiedlungen«, erwiderte Akkarin.
Rothen stand nahe genug, um zu sehen, dass Balkan und Vinara einen schnellen Blick tauschten. Er unterdrückte ein Lächeln. Es hieß, der Hohe Lord habe besonders scharfe Sinne, und fast alle Magier begegneten ihm mit ein wenig Ehrfurcht. Lorlen nickte und wandte sich dann wieder der Halle zu. Er schlug den Gong, und sein sanftes Läuten strich durch den Raum.
»Die Entscheidung, ob das Mädchen unterrichtet werden soll oder nicht, wird vertagt, bis man sie gefunden und sich ein Bild von ihrer Wesensart gemacht hat. Fürs Erste werden wir uns darauf konzentrieren, nach ihr zu suchen. Die Suche wird morgen zur vierten Stunde hier beginnen. Wer glaubt, einen triftigen Grund zu haben, in der Gilde zurückzubleiben, möge bitte einen Antrag formulieren und ihn heute Abend meinem Assistenten vorlegen. Hiermit erkläre ich die Versammlung für beendet.«
Das Rascheln von Roben und das Klappern von Absätzen erfüllte die Halle. Rothen trat einen Schritt zurück, als der erste aus der Reihe der Höheren Magier die Treppe herunterkam und auf die Nebeneingänge der Halle zustrebte.
»Hast du Lord Kerrin gehört?«, fragte Dannyl, der auf ihn zugeeilt war. »Er möchte, dass das Mädchen bestraft wird, weil sie seinen lieben Freund Fergun angegriffen hat. Ich persönlich finde ja, das Mädchen hätte keine bessere Wahl treffen können, wenn sie denn schon einen Magier bewusstlos schlagen wollte.«
»Also wirklich, Dannyl…«, begann Rothen.
»… und jetzt verlangen sie von uns auch noch, im Müll der Hüttensiedlungen herumzuwühlen«, erklang eine Stimme hinter ihm.
»Ich weiß nicht, was die größere Tragödie ist: dass sie den Jungen getötet haben oder dass sie das Mädchen verfehlt haben«, erwiderte ein anderer.
Rothen drehte sich voller Abscheu zu dem Sprecher um, einem alten Alchemisten, der zu beschäftigt damit war, düster zu Boden zu blicken, um Rothen irgendwelche Beachtung zu schenken. Als der Magier davongeschlurft war, schüttelte Rothen den Kopf.