Sie starrte die Tür an, und ihr Herz begann zu rasen. »Warum?«
Diesmal klang die Antwort noch leiser. »Ich muss dir etwas Wichtiges sagen, etwas, das er dir nicht sagen wird.«
Rothen hielt etwas vor ihr verborgen? Die Mischung aus Furcht und Erregung ließ ihr Herz noch schneller schlagen. Wer immer dieser Fremde war, er war bereit, um ihretwillen den Magiern zu trotzen. Sie wünschte, sie hätte durch die Tür sehen können, um festzustellen, wer der Besucher war.
Aber war es wirklich eine gute Idee, gerade jetzt etwas Nachteiliges über Rothen in Erfahrung bringen zu wollen? Gerade jetzt, da sie ihm unbedingt vertrauen musste?
»Sonea. Lass mich herein. Im Moment ist außer mir niemand im Korridor, aber das wird nicht lange so bleiben. Dies ist meine einzige Chance, mit dir zu reden.«
»Ich kann nicht. Die Tür ist abgeschlossen.«
»Versuche es noch einmal.«
Sie beäugte den Türknauf. Obwohl sie während ihrer ersten Tage hier mehrmals versucht hatte, die Tür zu öffnen, war es ihr nie gelungen. Jetzt streckte sie die Hand aus, drehte den Knauf und sog überrascht die Luft ein, als die Tür aufschwang.
Ein roter Ärmel erschien, dann die vollen, roten Roben eines Magiers. Sonea trat hastig einen Schritt zurück und sah den Magier entsetzt an. Sie hatte einen Diener erwartet oder einen als Diener verkleideten Retter – es sei denn, dieser Mann hatte es gewagt, sich in Roben zu kleiden, um zu ihr vordringen zu können …
Der Mann zog die Tür sachte hinter sich zu, dann drehte er sich zu ihr um. »Hallo, Sonea. Endlich lernen wir uns kennen. Ich bin Lord Fergun.«
»Ihr seid ein Magier?«
»Ja, wenn auch kein Magier, wie Rothen einer ist.« Er legte eine Hand auf seine Brust.
Sonea runzelte die Stirn. »Ihr seid ein Krieger?«
Fergun lächelte. Er war viel jünger als Rothen, stellte sie fest, und recht attraktiv. Sein Haar war hell und säuberlich gekämmt, und seine Gesichtszüge wirkten gleichzeitig elegant und stark. Sie wusste, dass sie ihn schon einmal gesehen hatte, konnte sich aber nicht daran erinnern, wo.
»Das bin ich«, sagte er. »Aber das ist nicht der Unterschied, von dem ich spreche.« Er legte eine Hand aufs Herz. »Ich bin auf deiner Seite.«
»Und Rothen ist es nicht?«
»Nein, obwohl er es durchaus gut meint«, antwortete er. »Rothen gehört zu der Art Menschen, die glauben zu wissen, was das Beste für andere ist, insbesondere für eine junge Frau wie dich. Ich dagegen betrachte dich als Erwachsene, der man gestatten sollte, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.« Er zog eine Augenbraue hoch. »Willst du mich anhören, oder soll ich dich in Ruhe lassen?«
Obwohl ihr Herz immer noch raste, nickte sie und deutete auf die Sessel. »Bleibt«, sagte sie. »Ich werde Euch anhören.«
Er neigte höflich den Kopf, dann ließ er sich in einen Sessel sinken. Sonea nahm in dem Sessel ihm gegenüber Platz und sah ihn erwartungsvoll an.
»Zunächst einmaclass="underline" Hat Rothen dir erklärt, dass du der Gilde beitreten kannst?«, fragte er.
»Ja.«
»Und hat er dir auch erzählt, was du tun musst, um Magierin zu werden?«
Sie zuckte die Achseln. »Ein wenig. Man muss ein Gelübde ablegen, und die Ausbildung dauert mehrere Jahre.«
»Und du weißt, was du in diesem Gelübde schwören musst?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, aber das spielt auch keine Rolle. Ich habe nicht die Absicht, der Gilde beizutreten.«
Er blinzelte. »Du willst der Gilde nicht beitreten?«, wiederholte er.
»Nein.«
Er nickte langsam und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Eine Weile schwieg er nachdenklich, dann blickte er wieder zu ihr hinüber. »Darf ich fragen, warum nicht?«
Sonea musterte ihn eingehend. Rothen hatte ihr erklärt, dass viele der Magier überrascht sein würden, wenn sie das Angebot der Gilde ausschlug. »Ich will nach Hause zurück«, antwortete sie.
Wieder nickte er. »Du weißt, dass die Gilde keinen Magier duldet, der sich ihrem Einfluss entzieht?«
»Ja«, erwiderte sie. »Das weiß jeder.«
»Dann weißt du auch, dass man dir nicht einfach gestatten wird, von hier fortzugehen.«
»Ich werde meine Kräfte nicht benutzen können, daher werde ich keine Bedrohung darstellen.«
Er zog die Augenbrauen in die Höhe. »Dann hat Rothen dir also erzählt, dass die Gilde deine Kräfte blockieren wird?«
Sonea runzelte die Stirn. Ihre Kräfte blockieren?
Fergun spitzte die Lippen. »Nein? Das hatte ich mir gedacht. Er sagt dir nur einen Teil der Wahrheit.« Er beugte sich vor. »Die Höheren Magier werden deine Kräfte in dir in einen Käfig stecken, so dass du keinen Zugriff mehr darauf hast. Das ist… keine angenehme Prozedur, ganz und gar nicht, und du wirst für den Rest deiner Tage mit diesem Käfig leben müssen. Verstehst du, auch wenn du nicht wissen wirst, wie du Magie wirken kannst, besteht doch immer die Möglichkeit, dass du von allein darauf kommst, wie du deine Kräfte benutzen kannst. Oder aber du findest einen wilden Magier, der bereit ist, dich zu unterrichten – obwohl Letzteres höchst unwahrscheinlich ist. Das Gesetz verlangt von der Gilde, dafür Sorge zu tragen, dass du keine Magie benutzen kannst, selbst wenn du alle Hilfe hättest, die du dazu brauchtest.«
Während er sprach, hatte sich ein bohrendes Gefühl der Kälte in Sonea ausgebreitet. Sie dachte darüber nach, was Rothen ihr erzählt hatte. Hatte er die Wahrheit wirklich mit Absicht so formuliert, dass sie weniger erschreckend klang? Wahrscheinlich. Ihr Argwohn wuchs, als sie sich plötzlich an etwas erinnerte: Rothen hatte die Möglichkeit, dass die Gilde sie freigeben würde, lediglich laut ausgesprochen. Sie hatte es nicht in seinen Gedanken gelesen und wusste daher nicht, ob er tatsächlich die Wahrheit gesagt hatte …
Sie blickte zu dem rotgewandeten Magier auf. Wie konnte sie irgendetwas von dem glauben, was er sagte? Andererseits fiel ihr kein Grund ein, warum er sie hätte belügen sollen, da sie die Wahrheit in jedem Fall selbst herausfinden würde, sobald sie Kontrolle gelernt hatte.
»Warum erzählt Ihr mir das?«
Er bedachte sie mit einem verzerrten Lächeln. »Wie ich schon sagte, ich bin auf deiner Seite. Du musst die Wahrheit erfahren, und… ich kann dir eine Alternative anbieten.«
Sie richtete sich auf. »Welche Alternative?«
Er schürzte die Lippen. »Es wird nicht einfach sein. Hat Rothen dir bereits erklärt, was es bedeutet, wenn ein Magier zum Mentor eines Novizen wird?«
Sonea schüttelte den Kopf.
Fergun verdrehte die Augen. »Er hat dir überhaupt nichts erklärt! Hör mir zu.« Er beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Als Mentor hat ein Magier die Möglichkeit, die Ausbildung eines Novizen zu überwachen. Rothen hat gleich nach der Säuberung den Antrag gestellt, dass man ihn zu deinem Mentor bestimmen möge. Als ich davon erfuhr, habe ich beschlossen, seinen Anspruch anzufechten. Damit habe ich die Gilde gezwungen, eine Anhörung – eine Versammlung – einzuberufen, bei der darüber entschieden wird, wer von uns beiden zu deinem Mentor bestimmt wird. Du wirst mir helfen, meine Forderung durchzusetzen, dann –«
»Warum sollte man eine Anhörung abhalten, wenn ich der Gilde doch gar nicht beitreten will?«, warf Sonea ein.
Er breitete versöhnlich die Hände aus. »Lass mich ausreden, Sonea.« Er holte tief Luft, dann fuhr er fort: »Wenn du dich weigerst, der Gilde beizutreten, wird man deine Kräfte blockieren und dich zu den Hütten zurückschicken. Wenn du dich dagegen zum Bleiben bereit erklärst und man mich zu deinem Mentor bestimmt, kann ich dir helfen.«
Sonea runzelte die Stirn. »Wie?«
Er lächelte. »Du wirst einfach eines Tages verschwinden. Wenn du willst, kannst du in die Hüttenviertel zurückkehren. Ich werde dir eine Methode zeigen, wie du deine Magie vor der Gilde verborgen halten kannst – was bedeutet, dass man deine Kräfte nicht blockieren wird. Am Anfang wird man Jagd auf dich machen, aber wenn du klug bist, wird man dich beim nächsten Mal nicht finden.«