Sonea schüttelte den Kopf. »Nein. Vielen Dank, Administrator.«
Er stand auf, und seine Roben raschelten. »Mich rufen meine Pflichten. Ich werde dich später noch einmal besuchen, Sonea. Vielleicht haben wir dann mehr Zeit zum Reden.«
Sie nickte und sah zu, wie Rothen den Administrator aus dem Raum geleitete. Als sich die Tür hinter Lorlen geschlossen hatte, wandte Rothen sich wieder Sonea zu.
»Nun, was hältst du von Lorlen?«
Sie dachte nach. »Er wirkt nett, aber er ist sehr förmlich.«
Rothen kicherte. »Ja, bisweilen ist er das allerdings.«
Er ging in sein Schlafzimmer hinüber, und als er zurückkam, trug er einen Umhang. Zu Soneas Überraschung hatte er einen zweiten Umhang über dem Arm.
»Steh auf«, sagte er. »Ich möchte sehen, ob er dir passt.«
Sonea ließ sich den Umhang um die Schultern legen. Er reichte fast bis zum Boden.
»Ein wenig zu lang. Ich werde ihn kürzen lassen. Für den Augenblick musst du einfach aufpassen, dass du nicht darüber stolperst.«
»Der Umhang ist für mich?«
»Ja. Als Ersatz für deinen alten.« Er lächelte. »Du wirst ihn brauchen. Es ist ziemlich kalt draußen.«
Sie sah ihn scharf an. »Draußen?«
»Ja«, erwiderte er. »Ich dachte, wir machen einen Spaziergang. Würde dir das gefallen?«
Sie nickte und wandte den Blick ab, weil sie nicht wollte, dass er ihr Gesicht sah. Der Gedanke, nach draußen zu kommen, erfüllte sie mit einer tiefen Sehnsucht. Sie hatte noch keine drei Wochen in diesen Räumen zugebracht, aber es kam ihr so vor, als wären es Monate gewesen.
»Unten werden wir Dannyl treffen«, erklärte er, während er die Tür öffnete.
»Jetzt?«
Er winkte sie zu sich heran. Sonea holte tief Luft und ging auf die Tür zu.
Anders als beim letzten Mal war der Korridor heute nicht verlassen. Einige Schritte rechts von ihnen standen zwei Magier, und eine Frau in gewöhnlicher Kleidung, die zwei kleine Kinder an der Hand hielt, kam ihnen entgegen. Und alle starrten Sonea voller Überraschung und Neugier an.
Rothen nickte den Leuten zu und machte sich auf den Weg in Richtung Treppe. Sonea, die ihm folgte, widerstand der Versuchung, sich umzudrehen. Diesmal tauchten keine schwebenden Magier auf, als sie die Treppe hinuntergingen. Stattdessen wurden sie an der untersten Stufe von einem vertrauten, hochgewachsenen Mann erwartet.
»Guten Abend, Sonea«, sagte Dannyl lächelnd.
»Guten Abend«, erwiderte sie.
Dannyl deutete mit weit ausladender Geste auf zwei große Türen am Ende des Korridors. Die Türen schwangen langsam auf, und ein kalter Windstoß wehte durch den Gang.
Den Innenhof, den sie jetzt betraten, hatte Sonea schon einmal gesehen, als sie mit Cery die Gilde erkundet hatte. Damals war es dunkel gewesen. Jetzt lag ein dämmriges Zwielicht über der Szenerie, so dass ihre Umgebung ihr seltsam gedämpft und unwirklich erschien.
Draußen angelangt, drang die kalte Luft sofort durch Soneas Kleidung. Obwohl sie sogleich zu zittern begann, war ihr die Kälte durchaus willkommen. Endlich wieder im Freien…
Wärme strich über ihre Haut. Erstaunt sah sie sich um, konnte aber nichts entdecken, was die Veränderung erklärt hätte. Rothen beobachtete sie.
»Ein simpler Trick«, erklärte er ihr. »Es ist ein magischer Schild, der die Wärme festhält. Man kann ihn betreten und auch wieder verlassen. Versuch es einmal.«
Sie machte einige Schritte zurück in Richtung der Türen und spürte die Kälte auf ihrem Gesicht. Ihr Atem formte sich in der Luft vor ihr zu weißem Nebel. Dann streckte sie die Hand aus – hinein in wohlige Wärme.
Rothen lächelte aufmunternd und winkte sie zu sich heran. Sonea trat neben ihn.
Zu ihrer Linken ragte der hintere Teil der Universität auf. Sie konnte jetzt die meisten der Gebäude identifizieren, die sie auf Dannyls Plan gesehen hatte. Ein seltsames Gebilde auf der anderen Seite des Innenhofs erregte ihre Aufmerksamkeit.
»Was ist das?«
Rothen folgte ihrem Blick. »Das ist der Dom«, antwortete er. »Vor einigen Jahrhunderten, bevor wir die Arena errichtet haben, fand dort der größte Teil der Ausbildung der Krieger statt. Unglücklicherweise konnte man die Vorgänge nur beobachten, wenn man sich im Innern des Doms aufhielt, daher mussten die Lehrer stark genug sein, um sich gegen die Magie zu schützen, die ihre Schüler vielleicht versehentlich entfesselten. Wir benutzen den Dom heute nicht mehr.«
Sonea betrachtete das Gebäude. »Es sieht aus, als hätte man eine große Kugel im Boden versenkt.«
»Genau das hat man auch getan.«
»Wie kommt man hinein?«
»Durch einen unterirdischen Korridor. Dort befindet sich eine Tür, die sich nur nach innen öffnen lässt. Die Mauern dort sind drei Schritte breit.«
Die Tür zum Novizenquartier wurde geöffnet, und drei in dicke Umhänge gehüllte Jungen kamen heraus. Sie gingen um den Innenhof herum und klopften sachte gegen die Laternenpfosten, die dort standen. Bei ihrer Berührung begannen die Lampen zu leuchten.
Sobald alle Lampen im Innenhof brannten, trennten sich die Jungen und liefen in verschiedene Richtungen davon. Einer eilte an der Vorderseite des Gebäudes entlang, der zweite verschwand im Garten auf der anderen Seite der Universität, und der dritte rannte auf dem Weg zwischen dem Badehaus und dem Magierquartier in Richtung Wald.
Dannyl sah Rothen fragend an. Obwohl die beiden Magier einander zu necken pflegten wie alte Freunde, war Sonea aufgefallen, dass Dannyl im Zweifelsfall stets seinen ehemaligen Mentor zu Rate zog.
»Wohin?«
Rothen deutete mit dem Kopf auf den Wald. »Hier entlang.«
Als sie ihren Weg fortsetzten, hielt sich Sonea dicht neben Rothen. Der Novize, der die Lampen dort entzündet hatte, eilte zurück zum Novizenquartier.
Als sie an der hinteren Mauer des Magierquartiers vorbeikamen, erregte eine Bewegung in einem der Fenster Soneas Aufmerksamkeit. Sie blickte auf und sah einen blonden Magier, der sie beobachtete. Mit einem leisen Erschrecken wurde ihr bewusst, dass sie den Mann kannte. Jetzt zog er sich hastig in die Dunkelheit zurück. Sonea runzelte die Stirn. Sie hatte keine Ahnung, wann Fergun sie wieder besuchen würde, aber wenn er es tat, würde er wissen wollen, ob sie sein Angebot annahm. Sie hatte nicht mehr viel Zeit, um eine Entscheidung zu treffen.
Vor ihrem Gespräch mit Lorlen hatte sie nicht herausfinden können, ob Fergun in allen Punkten die Wahrheit gesagt hatte. Sie hatte auf eine Gelegenheit gewartet, ihre Unterhaltung mit Rothen auf Gelübde und Mentoren zu lenken oder auf Fergun selbst, aber solche Gelegenheiten hatten sich ihr nur selten geboten. Konnte sie ihn direkt nach diesen Dingen fragen, ohne seinen Argwohn zu wecken?
Rothen hatte ihr zwar erzählt, was ein Mentor tat, hatte aber mit keinem Wort erwähnt, dass er sie auf diese Weise betreuen wollte. Vielleicht wollte er über seine Pläne Schweigen bewahren, bis er wusste, ob sie bleiben würde oder nicht.
Sobald sie die Kontrolle ihrer Kräfte erlernt hatte, standen ihr zwei Möglichkeiten offen: Sie konnte ihre Kräfte blockieren lassen und in die Hütten zurückkehren, oder sie konnte Fergun helfen, die Gilde dazu zu bewegen, ihn zu ihrem Mentor zu bestimmen. In diesem Fall würde sie ihre Magie behalten können, wenn sie wieder nach Hause ging.
Im Wald angekommen, besah Sonea sich das Labyrinth der Bäume. Ferguns Plan bereitete ihr Unbehagen. Er war gefährlich, und er bedeutete, dass sie andere würde täuschen müssen. Sie würde so tun müssen, als wolle sie in der Gilde bleiben, und wahrscheinlich würde sie auch lügen müssen, damit man Fergun zu ihrem Mentor bestimmte. Sie würde ein Gelübde ablegen müssen, das sie zu brechen gedachte, und wenn sie die Gilde verließ, würde sie nicht nur ihr Gelübde brechen, sondern auch das Gesetz des Königs.
Hatte sie Rothen inzwischen so sehr ins Herz geschlossen, dass der Gedanke, ihn zu belügen, ihr zu schaffen machte? Er ist ein Magier, rief sie sich ins Gedächtnis. Seine Loyalität gehört der Gilde und dem König. Obwohl sie nicht glaubte, dass er sie würde einsperren wollen, zweifelte sie nicht daran, dass er es tun würde, wenn man es ihm befahl.