Rothen hob die Hand, und plötzlich flackerte unmittelbar darüber ein winziger Lichtfunke auf. Im Nu war daraus eine runde Lichtkugel geworden, die kurz darauf über ihren Köpfen schwebte.
»Anscheinend nicht.« Dannyl seufzte.
Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln, als sie auf den Friedhof zugingen. Jetzt ließ auch Dannyl über seinem Kopf eine Lichtkugel entstehen.
»Fürchtest du dich vor der Dunkelheit, Dannyl?«, fragte Rothen über die Schulter gewandt.
Der hochgewachsene Magier antwortete nicht. Kichernd stieg Rothen über einen am Boden liegenden Ast und trat dann auf die Lichtung hinaus. Mehrere Reihen von Grabsteinen breiteten sich in der Finsternis vor ihnen aus.
Als sie näher kamen, sandte Rothen sein Licht voraus, so dass es direkt über einem der Steine hing. Der Schnee schmolz fast sofort, und die Gravur wurde sichtbar. Als die Lichtkugel wieder höher stieg, bedeutete er Sonea, näher an den Stein heranzutreten.
Ein ansprechendes Muster war in die Oberfläche eingemeißelt, und Sonea konnte einige Zeichen in der Mitte des Steins entdecken, die früher einmal vielleicht Worte geformt hatten.
»Kannst du die Inschrift lesen?«, fragte Rothen.
Sonea strich mit der Hand über die Gravur.
»Lord Gamor«, las sie. »Und dann kommt ein Jahr…« Sie runzelte die Stirn. »Nein, ich muss mich irren.«
»Ich glaube, da steht: ›Im fünfundzwanzigsten Jahr von Urdon‹.«
»Dieser Stein ist siebenhundert Jahre alt?«
»Allerdings. All die Gräber hier sind mindestens fünfhundert Jahre alt. Sie stellen ein großes Rätsel dar.«
Sonea ließ den Blick über die Reihen der Steine gleiten. »Warum sind diese Gräber ein Rätsel?«
»Seit jener Zeit sind hier keine Magier mehr begraben worden, und auch außerhalb der Gilde wird keiner begraben.«
»Wo begräbt man die Magier denn dann?«
»Überhaupt nicht.«
Sonea drehte sich zu ihm um. Ein leises Wispern fuhr durch die Bäume in der Nähe, und Dannyl riss die Augen auf und zuckte zusammen. Sonea spürte, wie sich die feinen Härchen in ihrem Nacken aufstellten.
»Warum nicht?«, fragte sie.
Rothen trat vor und betrachtete das Grab. »Vor vierhundert Jahren hat ein Magier seine Magie einmal als einen ständigen Begleiter beschrieben. Die Magie kann ein hilfsbereiter Freund sein, sagte er, oder ein tödlicher Gegner.« Er wandte sich wieder zu Sonea um. Seine Augen wurden von den Brauen überschattet, so dass Sonea den Ausdruck darin nicht erkennen konnte.
»Denk über all das nach, was du über Magie und Kontrolle gelernt hast. Deine Kräfte haben sich auf natürliche Weise entwickelt, aber die meisten von uns brauchen einen anderen Magier, der sie entfesselt. Sobald das geschehen ist, sind wir für den Rest unseres Lebens durch die Erfordernisse unserer Kräfte gebunden. Wir müssen lernen, sie zu kontrollieren, und wir müssen diese Kontrolle aufrechterhalten. Wenn wir das nicht tun, wird unsere Magie uns zu guter Letzt zerstören.« Er hielt inne. »Im Augenblick unseres Todes verlieren wir alle den Zugriff auf unsere Kräfte, und die in uns verbliebene Magie wird freigesetzt. Wir werden buchstäblich von dieser Magie verzehrt.«
Sonea blickte auf das Grab hinab. Trotz Rothens Wärmeschild drang ihr die Kälte jetzt bis auf die Knochen.
Sie hatte geglaubt, sie würde ihre Magie loswerden, sobald sie erst Kontrolle gelernt hatte, aber jetzt wusste sie, dass sie niemals frei davon sein würde. Was sie auch tat, die Magie würde immer da sein. Eines Tages würde sie, Sonea, in irgendeiner Hütte einfach verlöschen…
»Wenn wir eines natürlichen Todes sterben, ist das nur selten ein Problem«, fügte Rothen hinzu. »Die Kraft unserer Magie verblasst im Allgemeinen während unserer letzten Lebensjahre. Wenn wir jedoch keines natürlichen Todes sterben… Es gibt ein altes Sprichwort: Es bedarf eines Narren, eines Märtyrers oder eines Genies, um einen Magier zu ermorden.«
Plötzlich verstand sie Dannyls Unbehagen. Es war nicht die Gegenwart der Toten, die ihm zusetzte, sondern die Erinnerung an das, was mit ihm geschehen würde, wenn er starb. Aber er hatte dieses Leben aus freien Stücken gewählt, rief sie sich ins Gedächtnis. Im Gegensatz zu ihr.
Und im Gegensatz zu Fergun. Nachdem seine Eltern ihn gezwungen hatten, Magier zu werden, stand auch ihm dieses Ende bevor. Sie fragte sich, wie viele Magier der Gilde nur widerstrebend beitraten. Erstaunt über ihr neues Mitgefühl, sah sie noch einmal auf den Grabstein hinab.
»Also, warum gibt es dann diese Gräber hier?«
Rothen zuckte die Achseln. »Das wissen wir nicht. Es dürfte sie eigentlich gar nicht geben. Viele unserer Historiker glauben, diese Magier hätten sich all ihrer Kräfte entledigt, als sie begriffen, dass sie sterben würden. Sobald ihre Kräfte erloschen waren, so vermutet man, hätten sie sich erstochen oder Gift genommen. Wir wissen, dass sie andere Magier zu Zeugen ihres Todes bestellt haben. Vielleicht sollten diese Zeugen dafür sorgen, dass die alten Magier im richtigen Augenblick starben. Selbst ein winziger Rest von Magie kann genügen, um einen Körper zu zerstören, so dass die Wahl des richtigen Zeitpunkts von großer Bedeutung gewesen sein muss, vor allem weil die Magier dieser Zeit außergewöhnlich stark waren.«
»Aber wir wissen nicht mit Sicherheit, ob das die Wahrheit ist«, warf Dannyl ein. »Möglicherweise sind die Geschichten über ihre Kräfte übertrieben worden. Helden neigen dazu, immer riesenhafter zu werden, wenn die Nachwelt ihre Geschichte wieder und wieder neu erzählt.«
»Wir besitzen Bücher, die zu Lebzeiten dieser Magier geschrieben wurden«, erinnerte Rothen ihn. »Es gibt sogar Tagebücher von ihnen. Warum sollten sie ihre eigenen Fähigkeiten übertreiben?«
»Ja wirklich, warum?«, erwiderte Dannyl trocken.
Schließlich drehte Rothen sich um und führte sie auf demselben Weg zurück, auf dem sie gekommen waren.
»Ich glaube, dass jene ersten Magier wirklich mächtiger waren«, bemerkte Rothen. »Und dass wir seither schwächer geworden sind.«
Dannyl schüttelte den Kopf, dann wandte er sich an Sonea. »Was meinst du dazu?«
Sie blinzelte überrascht. »Ich weiß es nicht. Vielleicht hatten sie irgendeine Möglichkeit, ihre Magie zu verstärken.«
Dannyl schüttelte den Kopf. »Es gibt keine Möglichkeit, die Stärke eines Magiers zu vergrößern. Was er bei seiner Geburt hatte, damit muss er zeitlebens zurechtkommen.«
Sie erreichten die gepflasterte Straße und setzten ihren Weg fort. Inzwischen war es vollends dunkel geworden, und aus den Fenstern der Häuser entlang der Straße leuchtete ihnen Licht entgegen. Als sie an einer niedergebrannten Ruine vorbeikamen, fröstelte Sonea plötzlich. War dieses Haus vielleicht zerstört worden, als sein Bewohner starb?
Schweigend gingen sie weiter die Straße hinunter. Als sie zu dem Fußweg kamen, schickte Rothen sein schwebendes Licht voraus, so dass sie besser sehen konnten.
Als das Magierquartier in Sicht kam, dachte Sonea an all die Magier, die dort lebten und die alle, selbst im Schlaf, ihre Kräfte unter Kontrolle hielten. Vielleicht hatten jene frühen Stadtplaner einen anderen Grund gehabt, warum sie den Magiern ein ganzes Stadtviertel zur Verfügung gestellt hatten.
»Ich glaube, mehr Bewegung brauche ich für heute Abend nicht«, sagte Rothen plötzlich. »Und es ist auch gleich Zeit zum Essen. Möchtest du dich zu uns gesellen, Dannyl?«
»Natürlich«, antwortete der hochgewachsene Magier. »Mit Freuden.«
25
Neue Pläne
Die Sonne hing über den fernen Türmen des Palastes wie eine riesige Magierkugel und tauchte die Gärten in orangefarbenes Licht.
Sonea ging schweigend neben Rothen her. In sich gekehrt. Rothen wusste, dass sie die Absicht hinter diesem Ausflug erraten hatte und sich innerlich gegen die neuen Eindrücke sperrte, so dass nichts von alledem sie in Versuchung führen konnte, in der Gilde zu bleiben.
Er lächelte. Sie mochte fest entschlossen sein, nichts an sich heranzulassen, aber Rothen hatte die Absicht, ihr so viel wie möglich von der Gilde zu zeigen. Sie musste sehen, was sie zurückwies.