Indria drehte die Flasche so, dass Sonea die Aufschrift lesen konnte. »Es ist eine Narkosesalbe«, erklärte sie. »Normalerweise streiche ich ein wenig davon auf die Handflächen von Besuchern, um die Kraft unserer Medizin zu demonstrieren.«
Sonea runzelte die Stirn. »Eine Narkosesalbe?«
»Sie betäubt deine Haut, so dass du nichts mehr fühlen kannst. Nach einer Stunde verliert sich die Wirkung wieder.«
Sonea zog die Augenbrauen in die Höhe, dann streckte sie die Hand aus. »Ich möchte es ausprobieren.«
Rothen sog scharf die Luft ein und musterte Sonea überrascht. Das war wirklich bemerkenswert. Was war aus ihrem Misstrauen Magiern gegenüber geworden? Hocherfreut beobachtete er, wie Indria die Flasche aufschraubte und ein wenig von der Salbe auf ein weißes Tuch strich.
Indria warf Sonea einen nervösen Blick zu. »Zuerst wirst du gar nichts spüren. Nach einer Minute wird es sich dann so anfühlen, als sei deine Haut plötzlich viel dicker als sonst. Möchtest du es trotzdem ausprobieren?«
Sonea nickte, und Indria gab behutsam etwas von der Salbe auf Soneas Handfläche.
»Pass auf, dass du nichts davon in die Augen bekommst. Du wirst nicht blind davon, aber glaub mir, es ist ein ausgesprochen eigenartiges Gefühl, betäubte Augenlider zu haben.«
Sonea betrachtete lächelnd ihre Hand. Indria legte die Phiole wieder in die Schublade, warf das Tuch in einen Eimer in einem der Schränke und rieb sich dann die Hände.
»Jetzt lasst uns nach oben gehen und einen Blick in die Klassenzimmer werfen.«
Sie gingen zurück durch den Hauptkorridor, wo sie an mehreren Heilern und einigen Novizen vorbeikamen. Manche von ihnen betrachteten Sonea voller Neugier. Andere dagegen machten zu Rothens Entsetzen kein Hehl aus ihrer Abneigung.
»Indria!«
Die Heilerin drehte sich um, und ihre grünen Roben wirbelten bei der abrupten Bewegung um ihre Beine. »Darlen?«
»Hier drin.«
Die Stimme kam aus einem der Behandlungszimmer in der Nähe. Indria ging auf die Tür zu.
»Ja?«
»Könntest du mir kurz zur Hand gehen?«
Indria drehte sich um und grinste Rothen an. »Ich werde fragen, ob es dem Patienten etwas ausmacht, Publikum zu haben«, sagte sie leise.
Sie trat in den Raum, und Rothen hörte mehrere leise Stimmen. Sonea sah Rothen mit undeutbarer Miene an, dann wandte sie sich ab.
Kurz darauf kehrte Indria zurück und machte ihnen ein Zeichen. »Kommt herein.«
Rothen nickte. »Gebt mir einen Moment Zeit.«
Als die Heilerin wieder verschwunden war, holte Rothen tief Luft. »Ich weiß nicht, was du da drin sehen wirst, aber ich glaube nicht, dass Indria uns hereinbitten würde, wenn es etwas Beängstigendes wäre. Wenn du dich jedoch vor dem Anblick von Blut fürchtest, sollten wir besser nicht hineingehen.«
Sonea wirkte erheitert. »Ich werde schon zurechtkommen.«
Achselzuckend deutete Rothen auf die Tür. Als sie hindurchtrat, sah sie, dass der Raum genauso eingerichtet war wie das erste Behandlungszimmer. Auf dem Bett lag ein Junge von etwa acht Jahren. Sein Gesicht war weiß, und seine Augen waren gerötet vom Weinen. Der Heiler, der Indria um Hilfe gebeten hatte, war ein junger Mann in grünen Roben, Lord Darlen, der soeben behutsam einen blutgetränkten Verband von der Hand des Jungen abnahm. Ein junger Mann und eine junge Frau saßen auf zwei Holzstühlen und verfolgten die Prozedur mit unverkennbarer Sorge.
»Stellt euch bitte dorthin«, wies Indria sie an. Ihre Stimme wirkte plötzlich verändert und strenger als zuvor. Rothen trat in eine Ecke des Raums, und Sonea folgte ihm. Darlen sah sie nur kurz an, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder dem Jungen zuwandte.
»Tut es noch weh?«
Der Junge schüttelte Kopf.
Rothen blickte zu den jungen Eltern hinüber. Obwohl sie sich offenkundig in aller Eile angezogen hatten, wirkten ihre Kleider luxuriös. Der Mann trug einen modischen langen Mantel und die Frau einen schlichten, schwarzen Umhang mit einer pelzbesetzten Kapuze.
Sonea, die neben ihm stand, keuchte leise. Lord Darlen hatte soeben die letzten Verbände abgenommen. Zwei tiefe Schnitte durchzogen die Handfläche des Jungen, und Blut tropfte aus den Wunden.
Darlen krempelte den Ärmel des Jungen hoch und umfasste mit festem Griff den Arm. Der Blutstrom versiegte, und der Heiler sah zu den Eltern hinüber.
»Wie ist das passiert?«
Der Mann errötete und senkte den Blick zu Boden. »Er hat mit meinem Schwert gespielt. Ich habe es ihm verboten, aber er…« Der junge Vater schüttelte mit grimmiger Miene den Kopf.
»Hm.« Darlen drehte die Hand des Jungen ein wenig. »Die Wunden müssten eigentlich gut heilen, obwohl er für den Rest seines Lebens Narben als Andenken zurückbehalten wird.«
Die Frau schluchzte leise auf, dann brach sie in Tränen aus. Ihr Mann legte ihr den Arm um die Schultern und sah den Heiler erwartungsvoll an.
Darlen wandte sich zu Indria um. Sie nickte und ging zu den Regalen hinüber. Aus einer der Schubladen dort nahm sie einige weiße Tücher, eine Schale und eine große Flasche mit Wasser. Dann kehrte sie zu dem Bett des Jungen zurück und wusch ihm vorsichtig die Hand. Als die Wunde gesäubert war, legte der Heiler behutsam eine Hand auf die des Jungen und schloss die Augen.
Stille folgte. Obwohl die Mutter weiter leise schluchzte, wirkten jetzt alle Geräusche gedämpft. Der Junge wurde unruhig, aber Indria beugte sich vor und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Pst. Du darfst ihn nicht in seiner Konzentration stören.«
»Aber es juckt«, protestierte er.
»Das hört gleich auf.«
Rothen bemerkte eine Bewegung neben sich und sah, dass Sonea sich die Hand rieb. Darlen holte tief Luft und schlug die Augen auf. Dann strich er mit den Fingern über die Verletzungen des Jungen. Statt der tiefen Wunden durchzogen jetzt nur noch feine, rote Linien die Handfläche des Jungen. Darlen blickte den Kleinen lächelnd an.
»Deine Hand ist jetzt geheilt. Ich möchte, dass du sie jeden Tag neu verbindest. Und du darfst sie mindestens zwei Wochen lang nicht benutzen. Du möchtest doch nicht, dass meine ganze Arbeit umsonst war, oder?«
Der Junge schüttelte den Kopf. Dann hob er die Hand und fuhr mit dem Finger die Narben nach. Darlen klopfte ihm auf die Schulter.
»Nach zwei Wochen kannst du anfangen, sie vorsichtig wieder zu bewegen.« Er wandte sich zu den Eltern um. »Es dürfte kein dauerhafter Schaden zurückbleiben. Er wird schon bald wieder alles tun können, was er zuvor getan hat, einschließlich des Spiels mit dem Schwert seines Vaters.« Er beugte sich vor und stieß dem Jungen sachte einen Finger gegen die Brust. »Aber nicht bevor er erwachsen ist.«
Der Junge grinste. Darlen half ihm beim Aufstehen und beobachtete lächelnd, wie der Junge zu seinen Eltern hinüberlief und sich in die Arme schließen ließ.
Der Vater blickte mit feuchten Augen zu Darlen auf und öffnete den Mund, um zu sprechen. Der Heiler hob die Hand, um ihm Schweigen zu gebieten, dann nickte er Indria zu.
Indria bedeutete Rothen und Sonea, ihr zu folgen, und sie verließen den Raum. Als sie wieder im Korridor standen, konnte Rothen die Stimme des Vaters hören, der sich bei Darlen bedankte.
»Sieht einfach aus, nicht wahr?« Indria verzog das Gesicht. »Aber in Wirklichkeit ist es ausgesprochen hart.«
»Die Heilkunst ist die schwierigste aller Disziplinen«, ergänzte Rothen. »Sie verlangt eine genauere Kontrolle und viele Jahre Übung.«
»Weshalb sie einigen jungen Leuten nicht besonders erstrebenwert erscheint«, erklärte Indria naserümpfend. »Sie sind einfach zu faul.«
»Ich habe viele Novizen, die ganz und gar nicht faul sind«, entgegnete Rothen spitz.
Indria grinste. »Aber Ihr seid auch so ein wunderbarer Lehrer, Rothen. Selbstverständlich sind Eure Schüler die aufmerksamsten und strebsamsten in der Universität – wie könnte es auch anders sein?«
Rothen lachte. »Ich sollte öfter hierher kommen. Eure Worte tun mir so gut.«
»Hm«, sagte sie, »im Allgemeinen bekommen wir Euch nur dann zu Gesicht, wenn Ihr über Magenverstimmung klagt oder Euch bei Euren dummen Experimenten Brandwunden zugezogen habt.«