»Sagt das nicht.« Rothen legte einen Finger an die Lippen. »Als Nächstes werde ich Sonea nämlich die Alchemieräume zeigen.«
Indria warf Sonea einen mitfühlenden Blick zu. »Viel Glück. Und versuch, nicht einzuschlafen.«
Rothen straffte sich und deutete auf die Treppe. »Setz deine Führung fort, du freches Mädchen«, befahl er. »Es ist erst ein Jahr vergangen seit deinem Abschluss, und schon jetzt glaubst du, du kannst so mit deinen ehemaligen Lehrern umspringen.«
»Sehr wohl, Mylord.« Sie vollführte eine spöttische Verbeugung, dann setzte sie ihren Weg durch den Korridor fort.
Sonea schob eine von Rothens Fensterblenden zurück und betrachtete die hinter der Glasscheibe umherwirbelnden Schneeflocken. Geistesabwesend rieb sie sich die Hand. Obwohl das Gefühl schon vor Stunden zurückgekehrt war, stand ihr die Taubheit noch immer lebhaft im Gedächtnis.
Sie hatte erwartet, dass Rothen ihr die Heiler bei der Arbeit zeigen und sie die Versuchung verspüren würde, diese Kunst selbst zu erlernen. Trotz ihres festen Entschlusses, sich davon nicht beeinflussen zu lassen, waren unerwünschte Gefühle in ihr aufgestiegen, als sie die Heilung des Kindes mit eigenen Augen gesehen hatte. Obwohl sie gewusst hatte, dass sie die Fähigkeit zu solchen Dingen besaß, hatte sie doch erst in diesem Moment begriffen, welche Chance ihre Magie darstellte.
Und genau das war natürlich Rothens Absicht gewesen. Seufzend klopfte sie an den Rand des Fensters. Wie erwartet, versuchte er, sie zum Bleiben zu bewegen, indem er ihr all die wunderbaren Dinge zeigte, die sie mit ihrer Magie würde tun können.
Aber gewiss hatte er nicht damit gerechnet, dass die Demonstrationen der Krieger, die sie am Vortag erlebt hatte, sie auch nur im Mindesten beeindrucken würden. Die Novizen, die einander Magie entgegenschleuderten, würden Sonea nicht in Versuchung führen, sich der Gilde anzuschließen. Vielleicht hatte Rothen ihr ja nur zeigen wollen, dass die Kämpfe harmlos waren. Strengen Regeln unterworfen, ähnelten sie eher Spielen als richtigen Kämpfen.
Als Sonea darüber nachdachte, fiel es ihr leichter zu begreifen, warum die Reaktion der Magier so heftig ausgefallen war, als sie sie auf dem Nordplatz »angegriffen« hatte. Sie waren an »innere Schilde« gewöhnt und daran, »Treffer« aufzulisten.
Es musste ein ziemlicher Schock für sie gewesen sein, zu sehen, wie Magie sich auswirken konnte, wenn man ihr ohne schützenden Schild ausgesetzt war.
Wieder seufzte sie. Wahrscheinlich würde ihr als Nächstes eine Führung durch die Labors der Alchemisten bevorstehen. Gegen ihren Willen regte sich so etwas wie Neugier in ihr. Von allen Disziplinen war die Alchemie diejenige, von der sie am wenigsten wusste.
Ein Klopfen an der Wohnungstür schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Tania hatte ihr schon vor Stunden Gute Nacht gesagt, und auch Rothen hatte sich bereits verabschiedet. Ein Name schoss ihr durch den Kopf, und ihr Herz setzte einen Schlag aus.
Fergun.
Er würde eine Antwort wollen, und sie hatte sich noch nicht entschieden. Widerstrebend durchquerte sie den Raum und hoffte dabei, der Besucher könnte jemand anders sein.
»Wer ist da?«
»Fergun. Lass mich rein, Sonea.«
Sonea holte tief Luft und legte eine Hand auf den Griff. Sofort schwang die Tür auf. Der rotgewandete Magier schlüpfte herein und zog die Tür hinter sich zu.
»Wieso könnt Ihr die Tür öffnen?«, fragte sie und betrachtete stirnrunzelnd den Griff. »Ich dachte, sie sei verschlossen.«
Fergun lächelte. »Das war sie auch, aber sie lässt sich öffnen, wenn der Türknauf gleichzeitig von innen und von außen gedreht wird.«
»Ist das mit Absicht so eingerichtet?«
Fergun nickte. »Es ist eine Vorsichtsmaßnahme. Rothen könnte gerade nicht zur Stelle sein, wenn ein Notfall eintritt. Wenn du zum Beispiel ein Feuer verursachen solltest, könnte auch jemand anders dir zu Hilfe kommen.«
Sie schnitt eine Grimasse. »Ich hoffe, dass das nie wieder ein Problem sein wird.« Sie deutete auf die Sessel. »Nehmt Platz, Fergun.«
Er ging zu den Sesseln hinüber und setzte sich. Als sie ihm gegenüber Platz genommen hatte, beugte er sich gespannt vor.
»Also, macht dein Kontrollunterricht gute Fortschritte?«
»Ja … ich glaube schon.«
»Hm, erzähl mir, was du heute getan hast.«
Sie lächelte kläglich. »Ich musste eine Schachtel vom Boden hochheben. Das war nicht einfach.«
Fergun sog scharf die Luft ein, und seine Augen weiteten sich. »Was er dir beibringt, hat nichts mehr mit Kontrollübungen zu tun. Er zeigt dir, wie du deine Magie benutzen kannst. Wenn er das tut, musst du die Kontrolle bereits gemeistert haben.«
Eine Mischung aus Erregung und Hoffnung stieg in Sonea auf. »Er hat gesagt, er wolle auf diese Weise meine Kontrolle testen.«
Fergun schüttelte ernst den Kopf. »Jede Magie ist ein Test der eigenen Kontrolle. Er würde dir nicht beibringen, Gegenstände anzuheben, wenn du nicht schon hinreichend Kontrolle über deine Magie besäßest. Du bist bereit, Sonea.«
Sonea lehnte sich in ihrem Sessel zurück und spürte, wie ein Lächeln um ihre Mundwinkel zuckte. Endlich!, dachte sie. Ich kann wieder nach Hause gehen!
Ein unerwarteter Stich des Bedauerns folgte dem Gedanken. Wenn sie fortging, würde sie Rothen vielleicht nie wieder sehen …
»Also, hast du dich davon überzeugt, dass ich dir die Wahrheit gesagt habe – dass Rothen dir Informationen vorenthalten hat?«
Sonea nickte. »Den größten Teil Eurer Worte konnte ich überprüfen. Administrator Lorlen hat mir erklärt, wie man die Kräfte eines Magiers blockiert.«
Fergun wirkte überrascht. »Lorlen selbst hat es dir erklärt? Gut.«
»Er hat mir auch gesagt, dass die Prozedur nicht schmerzhaft sei und dass sie mir anschließend nie wieder Unannehmlichkeiten bereiten würde.«
»Wenn es richtig gemacht wird. Es ist viele, viele Jahre her, seit die Gilde das letzte Mal die Kräfte eines Magiers blockieren musste.« Er verzog das Gesicht. »Beim letzten Mal haben sie die Sache ein wenig verpfuscht – aber du solltest dir deswegen keine Sorgen machen. Nimm meine Hilfe an, und du wirst dieses Risiko nicht eingehen müssen.« Er lächelte. »Also, werden wir zusammenarbeiten?«
Sie zögerte. Ihre Zweifel waren keineswegs zerstreut.
Als Fergun den Ausdruck in ihren Augen sah, fragte er: »Hast du dich entschieden zu bleiben?«
»Nein.«
»Das heißt, du bist noch immer unentschlossen?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Eurem Plan zustimmen soll«, gestand sie. »Zumindest einige Teile davon gefallen mir nicht.«
»Welche Teile?«
Sie holte tief Luft. »Wenn ich Novizin werde, muss ich ein Gelübde ablegen, von dem ich weiß, dass ich es brechen werde.«
Er runzelte die Stirn. »Und?«
»Ich bin nicht… glücklich darüber.«
Seine Augen wurden schmal. »Du machst dir Sorgen, ein Gelübde zu brechen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin bereit, um deinetwillen das Gesetz des Königs zu brechen, Sonea. Obwohl ich davon überzeugt bin, dass wir es so aussehen lassen können, als seist du aus eigenem Antrieb geflohen, besteht doch eine gewisse Gefahr, dass man meinen Anteil an der Sache entdecken könnte. Ich bin bereit, dieses Risiko um deinetwillen einzugehen.« Er beugte sich vor. »Du musst dich entscheiden, ob der König das Recht hat, dir deine Magie zu nehmen. Wenn du diese Frage für dich verneinen kannst, welchen Wert hat das Gelübde dann noch?«
Sonea nickte langsam. Er hatte Recht. Faren würde ihm zustimmen und Cery ebenfalls. Die Häuser hatten die Magie schon viel zu lange für sich behalten – und sie dann während der Säuberung gegen die Armen eingesetzt. Die Hüttenleute würden sie nicht verachten, wenn sie das Novizengelübde brach. Es war die Meinung dieser Menschen, die für sie zählte, nicht die Meinung des Königs oder der Magier.