Sonea runzelte die Stirn. »Der Novize hat also nicht das Recht, seinen Mentor selbst auszuwählen?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Dann sollte ich diesen Fergun wohl besser kennen lernen«, sagte sie langsam. »Um herauszufinden, was für ein Mensch er ist.«
Rothen sah sie forschend an, erstaunt über die Gelassenheit, mit der sie der Situation begegnete. Er hätte sich darüber freuen sollen, sagte er sich, aber er konnte sich einer leichten Enttäuschung nicht erwehren. Es wäre befriedigender gewesen, wenn sie gegen die Aussicht protestiert hätte, seiner Gesellschaft beraubt zu werden.
»Wenn du es wünschst, kann ich ein Treffen mit ihm arrangieren«, erwiderte er. »Er wird dich kennen lernen wollen, ebenso wie andere. Bevor das geschieht, sollte ich dich jedoch mit einigen der Regeln und Gebräuche der Gilde vertraut machen.«
In ihren Augen leuchtete Interesse auf. Erleichtert darüber, dass ihre Neugier zurückgekehrt war, lächelte Rothen.
»Zum Ersten wäre da die Sitte der Verbeugung.«
Unwille zeichnete sich auf ihren Zügen ab. Rothen kicherte mitfühlend.
»Ja. Verbeugungen. Alle Nichtmagier – natürlich mit Ausnahme der Mitglieder der königlichen Familie – müssen sich vor Magiern verbeugen.«
Sonea verzog das Gesicht. »Warum?«
»Es ist eine Geste des Respekts.« Rothen zuckte die Achseln. »So töricht es dir erscheinen mag, einige von uns betrachten es als eine nicht unerhebliche Kränkung, wenn man sich nicht vor ihnen verneigt.«
Ihre Augen wurden schmal. »Seht Ihr das auch so?«
»Im Allgemeinen nicht«, antwortete er. »Aber manchmal ist die Weigerung, sich zu verneigen, als bewusste Beleidigung gedacht.«
Sie sah ihn argwöhnisch an. »Erwartet Ihr, dass ich mich von jetzt an vor Euch verneige?«
»Ja und nein. Wenn wir unter uns sind, erwarte ich es nicht, aber sobald wir diese Räume verlassen, solltest du dich vor mir verbeugen, und sei es auch nur, um dich daran zu gewöhnen. Außerdem solltest du den Ehrentitel benutzen. Magier werden mit Lord oder Lady angesprochen. Die einzigen Ausnahmen bilden die Rektoren, die Administratoren und der Hohe Lord, die du mit ihrem Titel ansprechen musst.« Rothen lächelte über Soneas Gesichtsausdruck. »Ich hatte mir schon gedacht, dass dir das nicht gefallen würde. Du magst zwar in der untersten Gesellschaftsschicht aufgewachsen sein, aber du hast den Stolz eines Königs.« Er beugte sich vor. »Eines Tages wird sich jeder vor dir verneigen, Sonea. Das zu akzeptieren wird dir noch schwerer fallen.«
Sie runzelte die Stirn, dann griff sie nach ihrem Glas und leerte es.
»Also«, fuhr Rothen fort, »dann wollen wir uns jetzt den Regeln der Gilde zuwenden. Hier.« Er schenkte ihr noch einmal von dem Wein nach. »Mal sehen, ob du diese Regeln weniger schwer verdaulich findest.«
Rothen ging gleich nach dem Abendessen fort, zweifellos, um die Neuigkeit zu verbreiten. Als Tania den Tisch abräumte, trat Sonea ans Fenster. Sie hielt inne, um die Fensterblende zu betrachten, und zum ersten Mal bemerkte sie, dass das komplizierte Muster darauf winzige Symbole der Gilde darstellte.
Ihre Tante hatte zwei alte, von Schimmelflecken übersäte Fensterblenden besessen. Sie hatten die falsche Form für das Fenster ihres Zimmers in dem Bleibehaus gehabt, aber ihre Tante hatte sie trotzdem an die Scheibe gelehnt. Wenn die Sonne durch das Papier fiel, war es ihr leicht gefallen, über diese kleinen Mängel hinwegzusehen.
Statt des gewohnten Heimwehs, das sie sonst bei solchen Erinnerungen befiel, verspürte sie eine vage Sehnsucht. Der Luxus, der sie umgab, die Bücher und die blankpolierten Möbel entlockten ihr einen Seufzer.
Sie würde die Annehmlichkeiten und das gute Essen vermissen, aber damit hatte sie sich bereits abgefunden. Rothen zu verlassen, würde ihr jedoch nicht so leicht fallen. Sie schätzte seine Gesellschaft – die Gespräche mit ihm, ihren Unterricht und die Gedankenrede.
Ich wollte ohnehin fortgehen, rief sie sich zum hundersten Mal ins Gedächtnis. Ich habe bisher nur nicht darüber nachgedacht, wie viel ich hier gewonnen habe.
Das Wissen, dass man sie aus der Gilde vertreiben würde, hatte ihr erst zu Bewusstsein gebracht, was sie verlieren würde. Es würde ihr nur allzu leicht fallen, so zu tun, als wolle sie wirklich bleiben.
Nur gut, dass Fergun das nicht weiß, ging es ihr durch den Kopf. Das würde seine Rache nur umso süßer machen.
Fergun ging ein hohes Risiko ein, um ihr die Demütigung heimzuzahlen, die sie ihm zugefügt hatte. Er musste sehr wütend sein – oder sehr sicher, dass er damit durchkommen konnte. So oder so, er war bereit, große Anstrengungen zu unternehmen, um sie aus der Gilde verstoßen zu lassen.
»Lady?«
Als Sonea sich umdrehte, stand Tania vor ihr. Die Dienerin lächelte.
»Ich wollte Euch nur sagen, wie sehr ich mich freue, dass Ihr Euch zum Bleiben entschlossen habt«, bemerkte sie. »Es wäre eine Schande, wenn Ihr fortgehen würdet.«
Sonea spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. »Ich danke dir, Tania.«
Die Frau verschränkte die Hände. »Ihr seht so aus, als wärt Ihr voller Zweifel. Ihr tut das Richtige. Die Gilde hat noch nie arme Leute aufgenommen. Es wird ihnen nicht schaden, festzustellen, dass Ihr alles tun könnt, was sie können, und zwar genauso gut wie sie.«
Ein kalter Schauer überlief Sonea. Hier ging es nicht nur um Rache!
Die Gilde war nicht dazu verpflichtet, sie aufzunehmen. Die Magier hätten einfach ihre Kräfte blockieren und sie in die Hütten zurückschicken können. Aber genau das wollten sie nicht. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten hatten die Magier es in Erwägung gezogen, jemanden von außerhalb der Häuser zu unterrichten.
Ferguns Worte hallten in ihren Gedanken wider. Sobald du eine kleine Aufgabe für mich erledigt hast, wird man dich dorthin zurückschicken, wo du hingehörst. Zurück dorthin, wo sie hingehörte?
Sie hatte die Verachtung in seiner Stimme gehört, aber sie hatte die Bedeutung seiner Worte nicht begriffen. Fergun wollte nicht nur dafür sorgen, dass sie der Gilde nicht beitreten konnte. Er wollte sicherstellen, dass man niemals wieder jemandem vom Hüttenvolk eine solche Chance geben würde. Welche »Aufgabe« Fergun auch für sie vorgesehen haben mochte, er würde damit beweisen, dass die Hüttenleute nicht vertrauenswürdig waren. Die Gilde würde es nie wieder in Erwägung ziehen, ein Mitglied dieser Gesellschaftsschicht in ihre Reihen aufzunehmen.
Sonea hielt sich am Fenstersims fest, und ihr Herz hämmerte vor Wut. Sie öffnen mir, einem Mädchen aus den Hüttenvierteln, ihre Türen, aber ich werde fortgehen, als bedeutete das gar nichts!
Ein vertrautes Gefühl der Hilflosigkeit überfiel sie. Sie konnte nicht bleiben. Cerys Leben hing davon ab.
»Lady?«
Sonea blinzelte. Die Dienerin legte ihr sachte eine Hand auf den Arm.
»Ihr werdet Eure Sache gut machen«, versicherte Tania ihr. »Rothen sagt, Ihr wärt sehr stark und würdet schnell lernen.«
»Das sagt er?«
»Oh ja.« Tania wandte sich um und griff nach ihrem Korb, in den sie das schmutzige Geschirr gepackt hatte. »Nun, wir sehen uns morgen früh wieder. Und macht Euch keine Sorgen. Es wird alles gut werden.«
Sonea lächelte. »Danke, Tania.«
Die Dienerin verbeugte sich. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Als Sonea wieder allein war, blickte sie seufzend aus dem Fenster. Draußen hatte es erneut zu schneien begonnen, und weiße Flocken tanzten in der Nacht.
Wo bist du, Cery?
Bei dem Gedanken an den Dolch, den Fergun ihr gezeigt hatte, runzelte sie die Stirn. Es war möglich, dass er das Messer gefunden hatte, dass er Cery gar nicht wirklich in seiner Gewalt hatte …