»Seid Ihr noch da, Hazel?«
»Da kannst du Gift drauf nehmen, Todtsteltzer. Du mußt dir schon einiges mehr einfallen lassen, wenn du mich abschütteln willst.«
»Ich dachte, Ihr hättet erzählt, daß Ihr keine Übung im Umgang mit einem Gravschlitten besitzt?«
»Hab’ ich auch nicht. Die meiste Zeit komme ich mir vor, als säße ich in einem abstürzenden Aufzug. Aber ich kann dir überallhin folgen, Todtsteltzer.«
»Das habe ich nicht eine Minute bezweifelt, Hazel. Wir sind fast da, also haltet Euch bereit, mir den Rücken zu decken.
Vergeßt nicht, sie haben diese Schlitten bis auf das Notwendigste abgerüstet, um sie noch ein wenig schneller zu machen. Das bedeutet, unsere Schilde sind sehr schwach. Ein guter Treffer aus einem Disruptor, und sie fallen schneller als eine Straßenhure. Ich verlasse mich darauf, daß Ihr das zu verhindern wißt, Hazel. Und vergeßt auch nicht, daß wir als die Guten gekommen sind, also versucht bitte, außer Imperialen Wachen niemanden zu töten. Es ist sehr wichtig, daß wir einen guten Eindruck hinterlassen.«
»Ja, ja, schon gut«, erwiderte Hazel unbekümmert. »Du konzentrierst dich auf deine Karte und überläßt das Kämpfen mir.
So funktioniert es am besten.«
Owen hatte eine giftige Antwort auf der Zunge, aber er schluckte sie herunter. Er würde lernen, freundlich und nett zu Hazel zu sein, und wenn es ihn umbrachte. Er jagte weiter zwischen den Türmen hindurch, tiefer in die Stadt hinein und kämpfte gegen plötzliche Aufwinde und Luftströmungen. Es war noch früh am Morgen, und die Stadt erwachte eben erst.
Der Himmel war blutrot und überzog die pastellfarbenen Türme mit purpurnen Schatten. Noch gab es kaum Luftverkehr, aber das würde sich nach Sonnenaufgang rasch ändern, wenn der Arbeitstag begann. Der Plan verlangte, daß Owen und Hazel in das Gebäude der Steuerbehörde eindrangen und ihre schmutzige Arbeit erledigten, solange am Himmel noch relativ wenig Verkehr herrschte. Owen erhöhte seine Geschwindigkeit. Das Kraftfeld schaltete sich wieder ein und verschaffte seinen tränenden Augen und dem tauben Gesicht eine Atempause. Er und Hazel waren auf sich allein gestellt, bis sie landen und mit der Untergrundbewegung in Kontakt treten konnten. Im Augenblick fühlte er sich allein und verwundbar.
Owen konnte spüren, daß Hazel dicht hinter ihm hing. Er blickte nicht zurück, um sich zu vergewissern. Das war nicht nötig. Sie standen auf geheimnisvolle Weise miteinander in Verbindung, seit sie gemeinsam durch das Labyrinth des Wahnsinns gegangen waren, auf eine tiefe, fundamentale Art, die keiner von ihnen bis jetzt begriffen hatte. Dennoch bestand kein Zweifel, daß es sich um eine Art ESP handelt, aber auf einer sehr unbewußten Ebene, ein untrügliches Gefühl, wo die anderen sich zu jeder gegebenen Zeit befanden. Sie konnten nicht gegenseitig ihre Gedanken lesen – wofür Owen im übrigen dankbar war –, aber wie Hazel bereits bewiesen hatte, teilten sie jetzt alle Begabungen und Fähigkeiten, die zuvor nur ein einzelner besessen hatte. Owen konnte Hazels Anwesenheit in seinem Rücken spüren. Es war ein Gefühl, das ihm Sicherheit versprach. Er kurvte um einen weiteren Turm, so nah, daß er die Fenster mit den Fingerspitzen hätte berühren können.
Dann tauchte vor ihm das Gebäude der Steuerbehörde auf, haargenau dort, wo er es erwartet hatte. Im Chojiro-Turm.
Owen grinste wild und öffnete erneut den abgesicherten Kanal zu Hazel.
»Wir sind beinahe da. Macht Euch bereit, Hazel. Und Hazel?
Benutzt den Zorn nur, wenn es unbedingt sein muß. Ihr wißt noch längst nicht alles darüber. Es ist… unklug, ihn zu oft einzusetzen.«
»Blabla. Manchmal kommst du mir vor wie eine alte Frau, Todtsteltzer.«
Owen biß sich auf die Zunge und schluckte seine Antwort herunter. Er konzentrierte sich auf den vor ihm aufragenden Chojiro-Turm, verringerte die Energiezufuhr und wurde stetig langsamer. Den Schild ließ er eingeschaltet. Die Tarneinrichtung des Gravschlittens sollte ihn unsichtbar machen, soweit es die Sensoren des Turms betraf. Owen hatte keine Lust, überflüssige Risiken einzugehen, jetzt, da er so nah an seinem Ziel war. Der Chojiro-Turm war das höchste und häßlichste Gebäude in der näheren Umgebung, ein glänzendes Monument aus Glas und Stahl. Die Markierungen in den Clanfarben waren nicht zu übersehen. Zweifellos strotzte der Turm auch vor verborgenen Waffen und anderen häßlichen Überraschungen. Die Hadenmänner hatten Owen bei mehr als einer Gelegenheit versichert, daß sein und Hazels Schlitten sorgfältig präpariert worden waren und sie unbehelligt an den Verteidigungseinrichtungen des Turms vorbeikämen, aber natürlich hatte es keine Möglichkeit gegeben, das im voraus zu testen.
Owen zuckte innerlich die Schultern. Jetzt war es ein wenig zu spät, um sich deswegen Gedanken zu machen. Entweder es würde funktionieren wie geplant, oder er und Hazel würden wie Fliegen auf einer Windschutzscheibe an den Energieschirmen des Turms zerplatzen, und die Rebellion würde zu einem anderen Zeitpunkt beginnen müssen. Eigenartigerweise bemerkte Owen, daß ihn der Gedanke nicht sonderlich nervös machte. Die Hadenmänner hatten ihm versichert, daß ihre Apparate wie vorgesehen arbeiten würden, und es gab keinen Grund, ihnen zu mißtrauen. Jedenfalls nicht in dieser Hinsicht.
In jeder anderen vielleicht, aber nicht in dieser. Owen packte die Kontrollen fester und lenkte den Schlitten direkt auf die oberste Etage des Turms zu. Die Fenster sprangen ihm mit unglaublicher Geschwindigkeit entgegen, und er hatte kaum genug Zeit zu erkennen, daß er sicher die Schilde des Turms passiert hatte, bevor sein Gefährt durch das gepanzerte Stahlglas eines Fensters krachte, als wäre es überhaupt nicht vorhanden.
Einige Meter hinter dem zersplitterten Glas kam der Schlitten zum Stehen, und der Schild erlosch. Owen lockerte seinen verkrampften Griff um die Kontrollen und kletterte mit wackligen Knien herunter. Er warf einen gehetzten Blick in die Runde, doch die oberste Etage des Turms lag verlassen vor ihm, genau wie vorhergesehen. Auf den dicken Teppichen standen nur vereinzelte, schmucklose Möbel, und an den Wänden hingen nur wenige Bilder. Originale selbstverständlich. Der Chojiro-Clan war für seine minimalistische Lebens Philosophie berühmt. Owen hoffte nur, daß diese Philosophie sich auch auf die internen Sicherheitssysteme erstreckte, aber er hatte da seine Zweifel. Sein und Hazels Eindringen hatte mit Sicherheit alle möglichen Alarmanlagen ausgelöst, und da die internen Waffen ihnen genausowenig den Garaus gemacht hatten wie die Schilde, standen die Chancen gar nicht schlecht, daß im Augenblick eine kleine Armee schwer bewaffneter Männer auf dem Weg nach oben war, um den Grund für den Alarm herauszufinden. Natürlich würden sie unten anfangen und Stockwerk um Stockwerk durchkämmen müssen, um sicherzugehen. Das würde Owen und Hazel genug Zeit geben. Jedenfalls mehr als genug, damit sie sich um die Lektronen kümmern und wieder verschwinden könnten. Theoretisch zumindest. Owen zog den Disruptor und aktivierte den Schildprojektor an seinem Handgelenk. Das leichte Flimmern an seinem Unterarm und das vertraute Summen gaben ihm ein Gefühl der Sicherheit.
Hazel trat hinzu, in jeder Hand eine Pistole. »Das Steuerbüro befindet sich vier Stockwerke tiefer, richtig? Treppen oder Aufzug?«
»Treppen natürlich. Die Zentralrechner des Turms könnten die Aufzugkontrollen abschalten. Wart Ihr denn bei keiner einzigen Besprechung, Hazel?«
»Ich überlasse das Denken dir, Zuchthengst. Zeig mir einfach was, auf das ich schießen kann, und ich bin zufrieden.«
Owen entschied, daß er mit einer Antwort auf diese Frechheit sowieso nichts erreichen würde, und setzte sich in Bewegung.
Sie verließen den beinahe leeren Raum und betraten das Treppenhaus. Es befand sich genau an der Stelle, wo es laut Plan sein sollte, was Owen ein wenig aufmunterte. Wenigstens schienen die Informationen ihrer Agenten zuzutreffen. Das Treppenhaus war schmal und hell erleuchtet, und es sah aus, als wäre es irgendwann im vorigen Jahrhundert zum letzten Mal gestrichen worden. Aber schließlich – wer benutzte heutzutage noch Treppen, außer im Notfall?