Razor ließ den Treppenabsatz hinter sich, gewann unaufhaltsam an Boden, bis Owen und Hazel sich mit dem Rücken gegen die Korridorwand gedrängt wiederfanden und sie nicht mehr weiter zurückweichen konnten. Sie trennten sich und attackierten den Investigator von zwei Seiten gleichzeitig, doch Razor blieb standhaft und parierte jeden ihrer Angriffe. Seine Klingen bewegten sich zu schnell für das menschliche Auge.
Owen tauchte im letzten Augenblick unter einem blitzenden Hieb hinweg, und eine Klinge zog funkensprühend eine tiefe Furche in die Wand hinter seinem Rücken, genau in der Höhe, auf der sich Sekundenbruchteile zuvor noch sein Hals befunden hatte. Hazel schoß vor, in der Hoffnung, den Investigator in einem günstigen Augenblick zu erwischen; doch dann mußte sie sich selbst zur Seite werfen, als ein lauerndes Schwert nach ihr geschwungen wurde. Sie prallte hart auf den Boden und war im gleichen Augenblick wieder auf den Beinen, aber sie atmete schwer, und Blut rann an ihrem Ärmel herab. Hazel ignorierte die Wunde. Der Schmerz wurde durch den Schock und das Rasen des Zorns in ihr gedämpft.
Owen hatte inzwischen erkannt, daß sie den Investigator auch mit vereinten Kräften nicht würden schlagen können. Razor war in allen Tötungskünsten bis zur Vollkommenheit ausgebildet. Owen fehlte einfach die Erfahrung, um dem Investigator gewachsen zu sein. Genau wie Hazel. Aber sie besaßen den Zorn, und sie besaßen die Talente, die das Labyrinth des Wahnsinns ihnen geschenkt hatte. Owen aktivierte das mentale Band zu Hazel und trat mit ihrem Unterbewußtsein in Verbindung. Die beiden Rebellen warfen sich erneut auf Razor. Sie griffen in vollkommener Abstimmung an; zwei Schwerter, die von einem vereinten Willen geführt wurden. Razor wich einen Schritt zurück, dann einen weiteren, und ein ungläubiges Staunen trat auf sein Gesicht. Doch plötzlich blieb er stehen. Weiter würde er nicht zurückgehen. Selbst auf diese Art vereint, waren Owen und Hazel ihm höchstens ebenbürtig, mehr nicht.
Niemand hätte ein Ende des Kampfes vorherzusagen vermocht, wäre nicht Razors Kimono unvermittelt in tosende Flammen aufgegangen. Der Investigator warf sich zur Seite, rollte über den Boden in dem Versuch, das Feuer zu ersticken, aber es brannte um so heller, je mehr er dagegen unternahm.
Die Flammen leckten bereits an seinem Gesicht, als er taumelnd auf die Beine kam und durch den Korridor davonrannte – und während der ganzen Zeit entwich seinen Lippen kein einziger Schrei, kein Stöhnen, nichts. Schließlich verschwand der Investigator brennend hinter einer Biegung, und nur das sich rasch entfernende Echo seiner Schritte war noch zu hören.
Owen und Hazel verließen den Zorn-Modus und unterbrachen die mentale Verbindung. Sie klammerten sich aneinander, während sie atemlos darauf warteten, daß die schlimmsten Nebenwirkungen abklangen. Die Schnittwunde an Hazels Arm hatte zwar heftig geblutet, aber sie war nicht weiter ernst und verheilte bereits. Es dauerte trotzdem noch eine ganze Weile, bis das Zittern aufhörte und ihr Atem sich halbwegs normalisierte. Als die beiden Rebellen sich endlich voneinander lösten und einen Blick auf ihre Umgebung warfen, sahen sie sich drei Frauen mit genau dem gleichen Gesicht gegenüber, die sie von der Treppe herab mit sardonischem Grinsen beobachteten.
Klone! war Owens erster Gedanke. Wahrscheinlich aus dem Untergrund. Jedenfalls machten sie einen harten Eindruck.
Alle drei Frauen steckten in den gleichen abgetragenen Lederkleidern und waren über und über mit Ketten aus poliertem Stahl behängt. Sie schienen Mitte Zwanzig zu sein, doch ihre Gesichter wirkten entschieden älter, beinahe verhärmt. Alle drei waren klein und kräftig, mit nackten muskulösen Armen und langem dunklem Haar, in dem lauter bunte Bänder eingeflochten waren. Auch auf den Gesichtern trugen sie bunte Farbflecken, vielleicht um zu verbergen, wie hübsch sie sein konnten, wenn nicht die kalten Augen und die harten Münder gewesen wären.
»Können wir Euch helfen?« erkundigte sich Owen freundlich, ohne das Schwert zu senken. In ihm regte sich der Verdacht, daß er inzwischen ziemlich nach Schweiß stinken mußte, aber er würde nicht darauf zu sprechen kommen, solange sie es nicht taten.
»Die Seemöwen fliegen tief heute nacht«, sagte die Frau in der Mitte bedeutungsvoll.
Owen sah sie entgeistert an, dann wandte er sich zu Hazel, die seinen Blick ebenso entgeistert erwiderte.
»Die Seemöwen fliegen tief heute nacht«, wiederholte die Frau in der Mitte noch bedeutungsvoller.
»Verzeihung?« antwortete Owen. »Ich komme nicht ganz mit. Die Seemöwen tun was?«
»Halt, Moment mal«, fiel Hazel ein. »Seemöwen. Das ist ein Teil des Losungswortes! Wie ging es noch gleich?«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung« entgegnete Owen hilflos. »Ich erinnere mich einfach nicht. Es ist mir völlig entfallen.«
»Wenn ich nicht bald eine vernünftige Antwort bekomme, fange ich an zu schießen«, sagte die linke Frau.
»Engel!« rief Owen rasch. »Irgendwas mit Engeln!«
»Irgendwas mit Engeln im Mondlicht«, vervollständigte Hazel. »Glaube ich wenigstens.«
»Zur Hölle«, fluchte die Frau in der Mitte. »Das ist dicht genug dran. Wir können nicht den ganzen Tag warten.«
»Wir sind Eure Kontaktleute«, sagte die Frau zur Linken.
»Tut uns leid, wenn wir uns ein wenig verspätet haben, aber hier wimmelt es von Sicherheitsleuten, und wir wollten sie nicht alle umbringen. Das hätte nur unnötig Aufmerksamkeit erregt.«
»Schon gut«, sagte Hazel. »Was ist mit Stevie Blue geschehen?«
»Wir sind hier«, antwortete die mittlere.
»Genau«, sagte die rechte.
»Ihr alle?« erkundigte sich Owen zweifelnd.
»Ihr habt es erfaßt«, erwiderte die linke. »Ich bin Stevie Eins.
Das ist Zwo, und das ist Drei. Achtet darauf, uns nicht zu verwechseln – das mögen wir nämlich gar nicht.«
»Ich nehme an, Ihr seid Esper?« fragte Owen und steckte sein Schwert in die Scheide. Hazel folgte zögernd seinem Beispiel, aber sie hielt die Hände in der Nähe ihrer Pistolen. Owen schenkte den drei Stevies sein diplomatischstes Lächeln und schwor sich insgeheim, dem Idioten den Marsch zu blasen, der ihnen die falschen Informationen über den einen, angeblich männlichen Stevie Blue gegeben hatte. »Gute Arbeit, die Ihr bei dem Investigator geleistet habt«, lobte er. »Ich schätze, er war auf alles vorbereitet, nur nicht auf ein plötzliches Feuer.
Ich habe nichts dagegen, wenn Ihr ihn beim nächsten Mal gleich in einen schwelenden Aschenhaufen verwandelt. Also schön, da wir jetzt alle beisammen sind, wollen wir zum Geschäft kommen. Das Programm steckt in der Maschine und läuft. Wir müssen die feindlichen Eingeborenen nur so lange auf Distanz halten, bis es durchgelaufen ist, dann können wir von hier verschwinden. Ein Schiff wartet darauf, uns wieder aufzunehmen. Es ist ein Schiff der Hadenmänner, aber macht Euch deswegen keine Sorgen. Sie sind sehr vernünftig. Bisher jedenfalls.«
Die drei Stevies grinsten unisono. »Wer uns ärgert, wird geröstet«, sagte Stevie Eins. »Wir sind Pyros. Und Elfen. Das steht für Esper-Liberations-Front. Und wir lassen uns nichts gefallen.«
»Und ihr seid das, was der Untergrund unter Diplomaten versteht?« fragte Hazel ironisch. »Ihr werdet ziemlich beliebt sein bei unseren Strategiebesprechungen. Vielleicht gehe sogar ich wieder hin.«