Nagib Machfus
Die Reise des Ibn Fattuma
Das Heimatland
Leben und Tod, Traum und Wachheit — Stationen der verstörten Seele auf ihrem Weg, den sie Abschnitt um Abschnitt zurücklegen muss. Ein Weg, auf dem es Zeichen und Hinweise gibt, und dennoch tappt der Mensch in endloser Dunkelheit. Ein Weg, auf dem er sich unbeirrt an eine Hoffnung klammert, die lächelnd inmitten aller Ungewissheit neu keimt. Wonach suchst du, Reisender? Welche Gefühle toben in deiner Brust? Wie bleibst du Herr deiner Triebe und Launen? Warum brichst du wie ein Narr in schallendes Gelächter aus? Warum vergießt du Tränen wie ein Kind? Du vergnügst dich auf Tanzfesten, siehst zu, wie das Schwert des Henkers den Kopf abschlägt, und was auch immer geschehen mag, sei es erbaulich oder entsetzlich, wird im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers, begangen. Deine Seele wird von mächtigen Schatten beschützt — die Mutter, der Meister, die Geliebte, der Diener. Und trotzen diese Schatten auch nicht den Stürmen der Zeit, sind ihre Namen doch von Unsterblichkeit gekrönt. Mag ich meinem Ort noch so fern ein, er bleibt mir mit unauslöschlichen Erinnerungen vertraut, ist auf immer als Heimat in der Tiefe des Herzens aufgehoben. Solange ich lebe, wird mich unendlich vieles mit tiefer Liebe erfüllen — der duftende Dunst der Parfümhändler, die Minarette und Kuppeln, das anmutige Gesicht einer Hübschen, das der Gasse Glanz verleiht, die Maultiere der Mächtigen und die Schritte der Barfüßigen, die Gesänge der geistig Verwirrten und die Klänge der Rabab[1], die tänzelnden Hengste, die Weidenbäume, das Gurren der Tauben.
»Dies ist ein besonderer Tag, der Tag deiner Geburt«, begrüßt mich die Mutter und nickt mir zu mit ihrem wohlgeformten Kopf.
»Dann ist es eigentlich dein Tag«, erwidere ich freudig.
Mein Vater ist Mohammed al-Innabi, ein reicher Getreidehändler. Er hat der Welt sieben erfolgreiche Kaufleute geschenkt und erfreute sich bis ins hohe Alter bester Gesundheit. Mit achtzig Jahren fiel sein Blick auf meine Mutter, die hübsche, siebzehnjährige Fattuma, das letztgeborene Kind eines Metzgers, der Al-Azhari Katajif hieß. Sie eroberte sein Herz im Sturm. Er heiratete sie und kaufte auf ihren Namen ein geräumiges Haus, was in seiner Familie für Zorn und Aufruhr sorgte. Meine Brüder hielten diese Ehe für eine schmutzige, ungesetzliche Sache und suchten Beistand beim Richter und beim Vorstand der Händler.
Aber mein Vater ließ sich dadurch nicht beirren, denn erstens betrachtete er das Heiraten für sein unbestrittenes Recht, und zweitens war in seinen Augen das zeternde Geschrei über den Altersunterschied lediglich ein Vorwand, um über eigennützige Interessen hinwegzutäuschen. Von Zuversicht und Vertrauen erfüllt, trank er weiter aus der Quelle seines Glücks.
»Deine Geburt bewies ihnen einmal mehr, dass sie eine Niederlage erlitten hatten, und das entfachte ihren Zorn natürlich aufs Neue«, meinte meine Mutter.
Wie schon oft sagte ich zu ihr, dass die Gier der Menschen keine Grenze kenne.
Von klein an tat man mir mit Worten schön, ließ mich aber auf die übelste Weise leiden. Mein Vater hatte mir den Namen Kindil gegeben, aber meine Brüder nannten mich immer nur Ibn[2] Fattuma, »Sohn der Fattuma«. Damit wollten sie klarstellen, dass ich kein Verwandter sei, und ihre Zweifel an der Sittsamkeit meiner Mutter bekunden. Mein Vater starb, bevor sich sein Bild in meinem Gedächtnis einprägte. Er hinterließ uns ein stattliches Vermögen, sodass wir uns um die Zukunft nicht zu sorgen brauchten. Damit war den Streitereien mit meinen Brüdern eigentlich ein Ende gesetzt, aber meine Mutter fürchtete sich dennoch vor ihnen. Von bösen Ahnungen geplagt, beschloss sie, mich nicht zur Schule zu schicken, sondern von Scheich Marara al-Gibaili, einem Nachbarn ihrer Familie, zu Hause unterrichten zu lassen. Bei ihm lernte ich nicht nur den Koran kennen, sondern auch die überlieferten Taten und Aussprüche des Propheten; zudem erteilte er mir Lektionen in arabischer Sprache, in Rechnen, schöngeistiger Literatur und solcher über Reisen, Gesetzeskunde und Sufismus[3]. Er war ein kräftiger, Respekt einflößender Mann, so an die vierzigJahre alt. Sein Bart war immer sehr gepflegt, und genauso elegant sahen die Gubba[4] und der hohe Turban aus. Seine glänzenden Augen blickten einen durchdringend an, und er sprach mit voller Stimme in bedächtigem, ruhigem Tonfall. Über schwierige Stellen half er mir mit vortrefflichen Erklärungen hinweg, bei denen er freundlich lächelte. Meine Mutter, die nicht viel zu tun hatte, vertrieb sich die Zeit damit, dass sie den Unterricht aufmerksam verfolgte. Im Winter, wenn wir im Salon saßen, lauschte sie hinter dem Vorhang, und in den anderen Monaten hielt sie die Tür einen Spaltbreit offen und hörte uns von dort aus zu.
»Ich habe das Gefühl, dass du mit deinem Lehrer sehr zufrieden bist, das ist ein wahres Glück«, sagte sie einmal, was ich ihr begeistert bestätigte.
Der Scheich achtete darauf, dass genügend Zeit für Gespräche blieb. Gab es Fragen, forderte er mich auf, bei der Suche nach der Antwort laut zu überlegen. Er behandelte mich wie einen Erwachsenen. Eines schönen Tages, ich weiß nicht mehr, wie alt ich war, fragte ich ihn: »Wenn das stimmt, was Sie mir über den Islam erzählt haben, warum gibt es dann so viele arme und ungebildete Menschen?«
»Weil die Religion heutzutage«, erwiderte er traurig, »in die Moscheen eingesperrt ist und nicht mehr hinaus ins Freie gelangt.« Er sprach lang und breit über die misslichen Zustände, selbst den Sultan verschonte er nicht mit Kritik.
»Aber dann wacht ja nicht die Offenbarung über uns, sondern der Satan«, erklärte ich.
»Das hast du gut gesagt. Deine Worte sind vernünftiger, als man es von einem Jungen in deinem Alter erwarten würde.«
»Aber kann man dagegen gar nichts tun, Scheich?«
»Du bist ein kluger Bursche, aber du musst Geduld haben.«
Wenn er über Reisen sprach, hörte ich verzückt zu. Des Öfteren fiel der Name eines berühmten alten Reisenden, aber er sprach auch über seine eigenen Erfahrungen. »Mit meinem verstorbenen Vater bin ich oft unterwegs gewesen, vom Osten bis zum Westen.«
»O bitte, erzählen Sie…«
Er schilderte alles so genau, dass ich glaubte, die ausgedehnten Gebiete der Moslems selbst erkundet zu haben. Auf einmal kam mir mein Heimatland wie ein kleiner Stern unter all den Sternen vor, die den Himmel übersäten.
Er sah mich nachdenklich an. »Auf wirklich Neues wirst du nirgendwo stoßen.« Als ich ihn fragend anblickte, fuhr er fort: »Diese Regionen sind sich, was die Verhältnisse, Geschmäcker, Bräuche betrifft, alle sehr ähnlich. Und vom wahren Geist des Islam sind sie weit entfernt. Wirklich neue und fremdartige Gegenden kannst du heutzutage nur noch in der südlichen Wüste entdecken.«
Seine Worte zogen mich in ihren Bann und entfachten heiße Sehnsucht in mir.
»Ich bin nach dem Tod meines Vaters allein dorthin gereist und habe das Maschrik-, das Haira- und das Halbaland gesehen. Und hätten es die Umstände zugelassen, wäre ich auch noch ins Aman-, Ghurub-und Gaballand gezogen. Aber im Halbaland musste die Karawane Halt machen, weil es im benachbarten Amanland einen Bürgerkrieg gab.« Er schaute mich ernst an. »Es sind heidnische Länder.«
»Gott behüte!«, rief ich.
»Fremde haben trotzdem nichts zu befürchten, denn die Menschen leben vom Handel und von Reisenden.«
»Aber Heiden sind doch verabscheuungswürdig!«, warf ich ein. »Man wird ganz in Ruhe gelassen«, erwiderte er bedächtig.
3