Ich hielt zehn Tage für eine angemessene Zeit, also gab ich ihm zehn Dinar.
»Aus welchem Land kommen Sie?«
»Aus dem Land des Islam.«
»Hier in Haira«, sagte er mit warnendem Unterton, »existiert nur der Haira-Glaube.«
Dies weckte Erinnerungen an die Tragödie, die ich in Maschrik erlebt hatte. »Und worauf begründet sich dieser Glauben, verehrter Herr Ham?«, fragte ich vorsichtig.
»Auf unseren König, er ist unser Gott.« Er grüßte kurz und verschwand.
Ich löschte die Kerze und legte mich ins Bett. Erst der Mond, jetzt ein König, dachte ich, wie kann man bloß derart in die Irre gehen! Langsam, mein Freund, verhält sich der Sultan in deinem Land nicht auch wie ein Gott? Hör besser auf nachzudenken, und genieße nach den Strapazen der Reise die Ruhe. Flüchte dich vor den Sorgen des Lebens in den Schlaf.
Viel zu früh wachte ich wieder auf. Von der Straße drang gewaltiger Lärm in mein Zimmer, und da war mir klar, dass mir das den Schlaf geraubt hatte. Ich öffnete das Fenster und erblickte im Licht des noch jungfräulichen Morgens eine riesige Truppe von Soldaten, die teils auf Pferden ritten, teils zu Fuß marschierten. Im dröhnenden Takt der Trommeln zogen sie in Richtung des großen Stadttors ab. Verwundert schaute ich dem Treiben zu. Was mochte der Grund für den Aufmarsch sein? Als die Straße wieder frei war, bestellte ich das Frühstück. Auf dem Messingtablett, das ein Diener hereintrug, gab es Milch, Butter, Käse, Brot und Weintrauben. Ich war versucht, ihn zu fragen, was es mit den Soldaten auf sich habe, aber die Vorsicht hielt mich zurück. Nach dem Frühstück machte ich mich fertig zum Ausgehen, aber ich kam nur bis zur Tür. Vor dem Ausgang gab es einen großen Auflauf, die Menschen redeten heftig aufeinander ein.
»Das ist der Krieg, viele haben damit gerechnet…« »Es geht los, gegen das Maschrikland…« »Um das Volk von den fünf Tyrannen zu befreien!« »Auf dass auch dort unter der Herrschaft eines gerechten Gottes eine neue Zeit anbrechen kann!«
Mir wurde beklommen zu Mute, und meine Gedanken kreisten um Arusa und die Kinder. Was würde aus ihnen werden? Welches Schicksal erwartete sie? O nein, dieser Krieg wurde nicht geführt, um das Maschrikvolk zu befreien, sondern es ging einzig und allein um das Weideland und die Schätze der fünf Gebieter. Mit roher Gewalt würden die Menschen gezwungen werden, nicht mehr den Mond, sondern den neuen Herrscher anzubeten. Es würde Tote geben, vielen Menschen würden Schmach und Schande angetan werden, Tausende würden alle Habe verlieren und herumvagabundieren müssen. Aber geschieht das nicht auch in Kriegen, die Menschen, die den gleichen Glauben haben, um der brüderlichen Vereinigung willen führen?
Ich wollte das Gasthaus verlassen, da eilte Herr Ham auf mich zu. »Es ist gerade beschlossen worden, die Tagesgebühr um einen halben Dinar zu erhöhen, um einen Beitrag zu den Kriegskosten zu leisten.«
Widerwillig gab ich ihm fünf Dinar.
»Das ist nicht viel, wenn man bedenkt, dass es um die Befreiung von Sklaven geht«, erklärte Herr Ham lächelnd.
Insgeheim verfluchte ich ihn und all diese verlogenen Sprüche. Von Unruhe getrieben, hoffte ich darauf, den einen oder anderen Reisegefährten in deren Gasthaus anzutreffen. Tatsächlich saßen sie alle im Vorraum beisammen und redeten heftig aufeinander ein.
»Zeiten des Krieges sind immer unsicher!«
»Wir könnten alles bis auf den letzten Dirham[7] verlieren…«
»Andererseits werden die Preise steigen.«
»Und was ist mit den zusätzlichen Steuern?«
»Kriege wird es immer geben«, erklärte der Besitzer der Karawane, »und dem Handel nützen sie mehr als sie schaden. Ich glaube nicht, dass dieser Krieg lange dauern wird. Haira ist viel stärker als Maschrik. Binnen einer Woche ist alles vorbei.«
All meine Sorge galt meiner Familie. Ich beschloss, in Haira zu bleiben, und zwar einfach deshalb, weil ich dem Maschrikland möglichst nahe sein wollte. Denn eine neue Hoffnung ließ mich glauben, dass ich, war das Maschrikland dem Hairaland erst einmal angeschlossen, dorthin zurückkehren könnte. Gott in seiner unendlichen Güte würde mich dann gewiss mit meiner Familie vereinigen, und vielleicht könnte ich ja auch Arusa heiraten und mit ihr und den Kindern in ein neues Land mit einer neuen Religion ziehen. Erfüllt von dieser Hoffnung, fand ich am Leben wieder Gefallen. Es bereitete mir Vergnügen herumzulaufen und die Stadt Haira zu erkunden. Ich war ständig unterwegs — schaute, lauschte, machte Notizen. Die Stadt sah aus wie jede andere Stadt. Es gab Plätze, Gärten, Straßen, Sackgassen, große Gebäude, Häuser, Schulen, Hospitäler. Es wimmelte von Menschen, und überall standen Polizisten herum. Es gab eine Menge Lokale, in denen getanzt und gesungen wurde, und auf dem großen, weitläufigen Markt wurden Waren aus Haira, aber auch aus vielen anderen Ländern angeboten. Die milde Herbstluft weckte in mir ungeahnte Kräfte, und so machte ich mich immer wieder auf zu neuen Erkundungsgängen. Von Zeit zu Zeit kehrte ich in das Gasthaus am Markt ein; ich setzte mich zu meinen Reisegefährten oder unterhielt mich mit dem Besitzer der Karawane. Als ich auf das Wetter zu sprechen kam, sagte er: »Die Temperaturen sind hier meistens angenehm. Der Sommer ist erträglich, und der Winter ist nicht allzu kalt.«
Ich wunderte mich laut über die vielen Polizisten, aber er winkte ab. »Sie schützen den Staat, für Sicherheit ist jedenfalls gesorgt.«
Nun war es so, dass ich mir sowohl die Viertel der Reichen als auch die der Armen angesehen hatte. Die Reichen wohnten ruhig und schön, ihre Paläste glichen Museen, sie ließen sich in Sänften herumtragen. Die Armen vegetierten in Hütten und Ruinen, in unerträglichem Elend und ohne jede Hoffnung. Als ich wieder einmal mit dem Karawanenbesitzer zusammensaß, sagte ich: »Statt angeblich die Sklaven in Maschrik befreien zu wollen, sollte man lieber die eigenen Sklaven, hier in Haira, befreien.«
Leise, fast schon flüsternd, fragte er: »Und was sagst du über unser Land — das Land der göttlichen Offenbarung?«
Ich schaute ihn bedrückt an. »Wann immer ich auf meiner Reise auf ein Übel stieß, fühlte ich mich an unser armes Land erinnert.«
»Du solltest dir auf jeden Fall das Schloss des göttlichen Königs ansehen.«
Das wollte ich mir nicht entgehen lassen, also machte ich mich auf den Weg. Da stand es — stolz und erhaben, auf freiem Grund, weiträumig umschlossen von Palmen und Wachposten. Es glich dem Sultansschloss in meiner Heimat, nur dass es ein wenig prächtiger war. Auf der einen Seite zogen sich die Baracken der Wachleute entlang, auf der anderen Seite ragte der Tempel des göttlichen Königs empor. Mein Blick fiel auf ein Feld, das voller Stangen stand und mit einem Eisenzaun umgeben war. Ich ging näher heran, aber im nächsten Moment erstarrte ich: Auf jeder dieser Stangen steckte ein menschlicher Kopf. Ein Schauer des Entsetzens überlief mich. Dabei will ich nicht leugnen, dass ich als Junge in meiner Heimat ähnlich Grausames gesehen habe, allerdings nicht in diesem Ausmaß. Das Aufspießen der Köpfe von Verbrechern sollte eine abschreckende Wirkung haben und damit zur Erziehung beitragen.
Ich fragte einen Wachtposten, ob es möglich sei, den Grund für diese Hinrichtungen zu erfahren.
»Auflehnung gegen den göttlichen König«, antwortete er barsch.
Ich dankte ihm höflich und ging weiter. Für mich stand fest, dass diese Menschen für Freiheit und Gerechtigkeit gekämpft hatten; solche vorgeschobenen Begründungen waren auch im Land der göttlichen Offenbarung die Regel. Die Welt war wirklich seltsam, voller Verrücktheit, und es käme einem Wunder gleich, würde ich im Gaballand das heiß ersehnte Allheilmittel finden.