Ich fragte Herrn Ham, ob es außerhalb der Haupt-Stadt noch Sehenswürdigkeiten gebe, die ich mir anschauen sollte. Er verneinte, sagte, dass da alles flaches Land sei. Also widmete ich mich gänzlich meinen Aufzeichnungen, was mich auch davon ablenkte, ständig an Arusa und die Kinder zu denken. Einen Abend verbrachte ich in einer Schänke. Voller Entsetzen sah ich mit an, wie die Leute im volltrunkenen Zustand zu raufen begannen und keinerlei Scham mehr kannten. Ich wollte darüber schreiben, aber meine Feder versagte mir den Dienst. Als ich am Markt vorbeikam, teilte mir der Besitzer der Karawane mit, dass man am nächsten Morgen in aller Frühe aufbrechen wolle. Ob ich mich anschließen würde, fragte er. Ich erwiderte, dass ich gedenke, noch eine Weile zu bleiben. Der Grund dafür war Arusa, aber ich sah eine schwere Zeit auf mich zukommen, würde ich doch schrecklich einsam sein.
Am nächsten Tag wachte ich früh auf. Ich glaubte die Karawane zu sehen, wie sie sich bedächtig, vom Gesang der Kameltreiber ermuntert, in Gang setzte. Aber eine innere Stimme, ein Ruf des Schicksals, riet mir zu bleiben. Die Hoffnung, einmal doch wieder glücklich zu sein, wollte nicht erlöschen.
Um die Zeit nicht ungenützt verstreichen zu lassen, beschloss ich, meinen Kenntnisstand mit Informationen zu bereichern, die ich durch bloßes Besichtigen nicht erhalten konnte. Leider nahm sich Herr Ham nicht so viel Zeit für Gespräche wie mein Wirt im Maschrikland, also begnügte ich mich mit der Frage, ob er mir, falls das überhaupt gestattet sei, eine Begegnung mit dem Weisen des Landes ermöglichen könnte.
»Kann ich, hab ich für andere auch schon getan«, lautete seine Antwort.
Am Nachmittag des folgenden Tages machte ich mich zum Haus des Weisen auf; sein Name lautete Desing. Es war ein stattliches Haus, das inmitten eines Gartens voller Blumen und Obstbäume stand. Der weise Desing empfing mich mit freundlichem Lächeln und bat mich, neben ihm auf dem Sofa Platz zu nehmen. Er mochte an die fünfzig Jahre alt sein, war von kräftiger Statur und besaß klar geschnittene Gesichtszüge. Das weiße Käppchen auf dem Kopf passte bestens zu der weißen Abaja. Auf seine Bitte hin stellte ich mich vor. Ich nannte meinen Namen, sagte, was mein Begehr sei, und woher ich komme.
»Oh, da kommen Sie ja aus einem Land, das ebenfalls groß und mächtig ist«, erklärte er. »Was gefällt Ihnen hier, in unserem Land?«
Auf keinen Fall wollte ich meine ehrliche Meinung sagen, also erwiderte ich: »Es sind so viele Dinge, das kann ich alles gar nicht aufzählen. Die hohe Kultur, die Schönheit, die Stärke, die Ordnung.«
In seiner Stimme schwang Stolz mit, als er fragte: »Was halten Sie von dem Krieg, bei dem wir, um der Befreiung eines anderen Landes willen, das Leben unserer Söhne opfern?«
»Ähnlich Großes habe ich nie zuvor vernommen.«
»Wir stellen für die Menschen das Ideal eines glücklichen, ehrenhaften Landes dar«, tönte er mit großer Überzeugung.
Ich nickte zustimmend.
»Sie werden sich fragen, worin das Geheimnis unseres Erfolgs besteht? Nun ja, man hat Sie zu mir geschickt, weil ich der Weise dieses Landes bin. Aber in Wirklichkeit bin ich nichts anderes als ein Schüler. Der wahre Weise ist unser Gebieter, er ist Gott, er ist die Quelle aller Weisheit und allen Wohls. Gerade hat er noch auf dem Thron gesessen und regiert, da zieht er sich im nächsten Moment in einen entlegenen Flügel des Palasts zurück und fastet so lange, bis er zu leuchten beginnt. So also weiß er, dass ihn Göttlichkeit erfüllt und er der anbetungswürdige Gott geworden ist. Das lässt ihn seine Mission erfüllen, und da er alles mit göttlichem Auge sieht, empfangen wir von ihm ewige Weisheit. Alles, was von uns dafür verlangt wird, sind Glauben und Gehorsam.«
Ich hörte aufmerksam zu, allerdings nicht ohne im tiefen Innern meinen Herrgott um Verzeihung zu bitten.
»Er ist es, der die Armee aufstellt und die führenden Offiziere bestimmt, auf dass der Sieg gewiss ist. Er ist es, der aus seiner heiligen Familie die Gouverneure ernennt und aus den höheren Schichten die leitenden Kräfte für die Arbeit in den Fabriken und auf dem Land einsetzt. Was das Fußvolk betrifft, so verfügt es weder über irgendetwas Erhabenes noch über irgendwelche Fähigkeiten. Diese Menschen verrichten einfache Arbeiten, und wir lassen ihnen ihr täglich Brot zukommen. In der Rangfolge kommen gleich nach ihnen die Tiere, und nach den Tieren sind da die Pflanzen und die unbelebten Dinge. Das ist also ein genau geregeltes System, in dem jeder seinen Platz hat, und so widerfährt allen Gerechtigkeit.«
Er hielt inne und schaute mich ein Weilchen an. Dann fuhr er fort: »Was die Vermittlung philosophischer Werte betrifft, gehen wir zwei unterschiedliche Wege. Die Elite sprechen wir mit Gedanken an, die ihre Kraft, ihre Dominanz und ihren stetigen Reifeprozess stärken. Diese Menschen kommen deshalb in den Genuss aller nur denkbarer Bildungs- und Gesundheitsmittel. Allen anderen Leuten vermitteln wir Werte wie Demut, Gehorsam und Genügsamkeit, übrigens alles Eigenschaften, die bei jedem, der zur Masse gehört, bereits angelegt sind, sodass man sie als moralischen Schatz nur noch bewusst machen muss. Sie weisen also einen hohen Grad an Geduld, Fleiß und Friedfertigkeit auf. Mit dieser doppelten Moral gelingt es uns, die Disposition des Einzelnen zu berücksichtigen und entsprechend zu verfahren. Auf diese Weise sind alle glücklich, ja, wahrscheinlich sind wir das glücklichste Volk auf der ganzen Welt.«
Ich dachte nach über das, was er gesagt und was er nicht gesagt hatte. Schließlich fragte ich: »Wem gehören der Boden und die Fabriken?«
»Gott, dem Schöpfer und König.«
»In welchem Verhältnis steht die Elite dazu?«
»Sie nimmt stellvertretend die Rechte des Besitzers wahr. Der Gewinn wird zu gleichen Teilen vergeben.«
Mutig geworden, entschloss ich mich, einen neuen Punkt anzusprechen. »Was geschieht mit dem Vermögen Gottes?«
Zum ersten Mal lachte er laut los. »Kann man Gott fragen, was er tut?«
»Und wer kommt für die Kosten der Schulen und Krankenhäuser auf?«
»Die Elite. Jede Generation sieht das als ihre Pflicht an.« Er lächelte stolz. »Ist das nicht ein absolut vollkommenes System?«
Ich gab mir Mühe, mir meine wahren Gefühle nicht anmerken zu lassen. »Als >vollkommen< wird eigentlich immer das Gaballand bezeichnet.«
»Aber das Gaballand«, rief er empört, »ist doch nichts anderes als das Hairaland!«
»Da werden Sie wohl Recht haben, verehrter Weiser.«
»Das höchste Glück besteht für den Menschen darin, dass er sich von Gottes Geboten leiten lässt und danach lebt.«
»Umso mehr bin ich über diese aufsässigen Männer erstaunt, deren Köpfe aufgespießt wurden.«
»Die menschliche Natur«, ereiferte er sich, »ist von Verdorbenheit und Bösem nicht frei. Aber es sind nur wenige, die sich davon leiten lassen.«
Am Ende unseres Gesprächs bot er mir einen Apfel und ein Glas Milch an, und wenig später kehrte ich nachdenklich ins Gasthaus zurück. Vor meinem inneren Auge sah ich meinen alten Lehrer Marara al-Gibaili, und aus der Ferne stellte ich ihm die Frage, wer der größere Übeltäter sei — der, der aus Dummheit Göttlichkeit für sich beansprucht, oder der, der den Koran für seine eigenen Interessen ausnützt.