»Seine Meinung steht fest, daran wird sich auch nichts ändern.«
Ich wusste nicht ein noch aus. Sollte ich Arusa von diesem Gespräch erzählen? Durfte ich ihr, die ohnehin schon schwermütig war, neuen Schmerz zufügen? Den einzigen Traum, der ihr geblieben war, mochte ich nicht zerstören. Ich stellte mir die bange Frage, ob dieser Desing tatsächlich genug Einfluss hatte, um mir Arusa zu entreißen. Der Kammerherr des Sultans fiel mir ein, der mir Halima weggenommen hatte. Ich kam nicht zur Ruhe, konnte mich zu keinem Entschluss durchringen. Ständig hatte ich in den nächsten Tagen das Gefühl, dass etwas Bedrohliches auf mich zukam. Dass mein Glück auf keinen festen Boden begründet war. Dass es keine Flügel hatte.
Vier Tage vor der Abreise bat mich ein Diener, zu Herrn Ham zu kommen. In seinem Zimmer fand ich einen Offizier vor, der mir, nachdem Herr Ham mich ihm vorgestellt hatte, erklärte, dass er für mich eine Vorladung zum Polizeipräsidenten habe. Auf meine Frage, worum es sich handle, behauptete er, es nicht zu wissen. Ich müsse erst noch meine Frau verständigen, sagte ich, aber der Offizier winkte ab. Das würde Herr Ham für mich erledigen.
Wir gingen in die Königsstraße, wo sich das Polizeipräsidium befand. Ich wurde in den Raum des Präsidenten geführt. Er saß zwischen zwei Adjutanten auf einem Sofa. Der Blick, den er mir zuwarf, machte mir das Herz nicht gerade leichter.
»Sind Sie Kindil Mohammed al-Innabi, der sich hier als Reisender aufhält?«
Ich nickte.
»Sie werden beschuldigt, sich über die Religion des Landes lustig gemacht zu haben, dessen Gastrecht Sie genießen.«
»Diese Beschuldigung entbehrt jeglicher Grundlage«, erklärte ich mit fester Stimme.
»Es gibt Zeugen«, erwiderte er eisig.
»Niemand, der auch nur über ein Mindestmaß von Gewissen verfügt, kann so etwas behaupten!«, rief ich empört.
»Verleumden Sie nicht ehrenwerte Menschen, überlassen Sie es dem Richter, ein Urteil zu fällen.«
Ich wurde verhaftet. Am nächsten Morgen kam ich vor Gericht, wo man die Anklage verlas. Ich erklärte, unschuldig zu sein, aber da wurden die Zeugen aufgerufen. Es waren fünf, und der Erste, der den Saal betrat, war Herr Ham. Nachdem sie den Eid abgelegt hatten, machten sie ihre Aussage; es hörte sich an, als hätten sie sie auswendig gelernt. Das Gericht verurteilte mich zu lebenslanger Haft, mein Hab und Gut wurde beschlagnahmt. Arusa wurde in Gewahrsam genommen. Das alles war von einem Tag auf den anderen geschehen. Ich kostete bitterste Verzweiflung, musste begreifen, dass dieser Albtraum Wirklichkeit war und keine Abenteuergeschichte. Arusa war verloren, die Abreise vereitelt, und der schöne Traum vom Gaballand hatte sich in nichts aufgelöst. Ich selbst, mein ganzes Leben, waren für null und nichtig erklärt worden.
Das Gefängnis befand sich außerhalb der Stadt in einer Wüstengegend. Es bestand aus einem weitläufigen System von Gräben und Höhlen unter der Erde. Große Steinquader dienten als Wände, der Boden war Sand, und für die Luftzufuhr sorgten enge Schächte. Jeder Häftling erhielt eine Hose und ein Fell, mehr nicht. Die Luft war zum Ersticken, es roch modrig. Das ständige Zwielicht gab einem das Gefühl, als würde die Sonne nie aufgehen und der Morgen ewig vor sich hindämmern. Ich schaute mich benommen um und murmelte: »Hier werde ich also den Rest meines Lebens verbringen.« Die anderen Gefangenen starrten mich neugierig an und wollten wissen, was ich verbrochen hätte. Sie fragten, ich fragte, und schließlich verstand ich, dass die politischen Verhältnisse uns hier zusammengebracht hatten. Das tröstete mich in gewisser Weise, falls das in meiner Lage überhaupt möglich war. Es waren allesamt freidenkerische Männer, denen die sittlich verkommenen Verhältnisse zum Verhängnis geworden waren. Nachdem sie sich meine Geschichte angehört hatten, sagte einer: »Jetzt sogar Fremde…«
Keiner von ihnen hatte je Gott infrage gestellt, das wäre ein Verbrechen gewesen, für das sie geköpft worden wären. Man hatte sie wegen kritischer Fragen angezeigt, bei denen es um Gerechtigkeit und die Freiheit des Menschen ging. Ich sah einen alten Mann, der über achtzig Jahre alt war. Er saß bereits fünfzig Jahre im Gefängnis, war also noch unter dem Vorgänger des jetzigen Königs eingesperrt worden. Er hatte den Verstand verloren und wusste weder wo noch warum er sich hier befand. Völlig abgemagert lag er den ganzen Tag ausgestreckt auf seinem Fell.
»Wenn hier einer unseren Glückwunsch verdient, dann er«, sagte einer der Männer.
Ich glaubte ihm aufs Wort. Unsere Gedanken kreisten um das Wohl und Wehe des Menschen in dieser Welt.
»Es gibt kein glückliches Land.«
»Das Leiden vereint die Menschen.«
»Und wir, wir wissen uns nicht zu helfen, angesichts der hässlichen Wirklichkeit und eines Traums, der nie in Erfüllung gehen wird.«
»Aber es gibt Länder, die zumindest besser als unseres sind.«
»Ach was, dass die Menschen glücklich und zufrieden leben, das ist ein unerreichtes Ziel.«
»Und das Gaballand?«
Als ich dieses magische Wort hörte, klopfte mir das Herz bis zum Hals. Voller Wehmut erinnerte ich mich an das Ziel meiner Reise, das ich nie mehr erreichen würde. »Was wisst ihr über das Gaballand?«, fragte ich begierig.
»Nicht viel mehr als das Übliche, dass es angeblich das Land der Vollkommenheit sei.«
»Vielleicht hat einer etwas darüber gelesen? Oder hat jemanden getroffen, der dieses Land besucht hat?«
»Leider nicht, wir kennen es nur vom Hörensagen.«
»Wer kann denn diesen Traum je wahr machen?!«
»Der Mensch. Das kann nur der Mensch.«
Ich war müde der Reden, müde der Seufzer, müde der trügerischen Hoffnungen. Im Innern sagte ich mir, dass dieses Gefängnis für alle Zeiten meine Welt sein würde.
Seltsamerweise bot mir die geistige Haltung meines alten Lehrers, Scheich Marara, keinen Halt; das logische Denken, das ich bei ihm gelernt hatte, nützte mir nichts. Dafür half mir aber die Schlichtheit meiner Mutter über meine Verzweiflung ein wenig hinweg. Ihre Art zu denken schien wie geschaffen fürs Gefängnis. Ich ergab mich in mein Schicksal und sagte mir, dass alles Gottes Wille sei. >Was mir geschieht, kommt von Ihm.< Ich übte mich in Demut, verabschiedete mich endgültig von Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Das Einzige, worauf ein Gefangener wie ich hoffte, war, jegliche Hoffnung ersticken zu können. Es hieß, sich an das Grab zu gewöhnen, das mich verschlungen hatte, und mich der Verzweiflung zu überlassen, die jede Zelle meines Körpers beherrschte. Fort mit den Gespenstern der Vergangenheit, wie auch immer sie heißen mögen -Heimat, Mutter, Arusa, Kinder, Gaballand. Gewöhn dich an den modrigen Geruch, denn einen anderen gibt es nicht. Finde dich mit dem Halbdunkel ab, denn heller wirds nicht mehr. Kümmere dich nicht um das Ungeziefer, denn das ist sein angestammter, rechtmäßiger Platz.
Schmerz und Langeweile waren die treuen Gefährten; immer öfter tauchte ich in Tiefen ab, die bodenlos waren. Es herrschte grenzenlose Stille. Qualen wurden zur Gewohnheit, doch aus der Verzweiflung erwuchs eine seltsame Kraft, die einem Geduld verlieh und einen weiterleben ließ.
Eine Stimme zerriss das Schweigen. »Vor grauen Zeiten soll ein Gefangener auf einmal eine solche Kraft verspürt haben, dass es ihm gelang, die Mauer zu durchbrechen, sich in die Luft aufzuschwingen und über alle Grenzen hin wegzufliegen.«
Ich nahm dieses Geschwätz gleichgültig hin. Einen Tag später, oder ein Jahr später, sagte eine andere Stimme: »Vielleicht kommt es zwischen dem Hairaland und dem Halbaland zu einem Krieg, dann könnten wir wieder ans Licht kriechen.«