Ich verzieh es, dass mich jemand ans Licht erinnerte, denn das Einzige, woran mir lag, war, den Verstand zu verlieren und glücklich wie der alte Mann zu sein. Stufe um Stufe stieg ich in dunkle Gefilde hinab; jegliches Gefühl für Zeit ging verloren, alle Bindung ans Leben zerriss, alles Vergangene war verschwunden. Ich kümmerte mich nicht um Stunde, Tag, Monat, Jahr. Nichts ließ mich aufmerken, mein Dasein war mir zu einem einzigen Rätsel geworden. Ich wurde älter und älter, zählte nicht mehr mit. Wie ich aussah, wusste ich nicht. Nur wenn ich meine Leidensgefährten ansah, ahnte ich, was für ein Ausbund von Hässlichkeit und Dreck ich geworden war. Die einzigen Wesen, die sich in diesem dunklen Loch glücklich fühlten, waren die Läuse, Wanzen, Schaben und was sonst noch so herumkroch. Generation um Generation, Epoche um Epoche würden wir die Vergänglichkeit in ihrer erhabenen Ewigkeit auskosten müssen. So ging alles weiter und weiter und weiter… Aber plötzlich geschah doch etwas — ein neuer Gefangener wurde in unser Loch geworfen. Wie Ungeziefer krochen wir an ihn heran und bestaunten das Wesen, das aus der anderen Welt kam. Es war ein alter Mann, er sah erbärmlich aus, aber irgendwie kam es mir vor, als hätte ich ihn schon einmal gesehen. Unser greiser Gefährte war vor etlicher Zeit gestorben, nun sollte also dieser Mann seinen Platz einnehmen. Er schaute uns an und begann zu weinen.
»Heul nicht, das schadet den Läusen«, sagte jemand.
»Wer bist du?«, wollte ein anderer wissen.
»Ich bin der weise Desing«, erwiderte der Alte weinerlich.
Auf einen Schlag erwachte ich aus meinem stumpfen Dahindämmern, und mit einer Stimme, die mir selbst fremd vorkam, rief ich: »Desing! Wie konnte ich dich nur vergessen!«
»Wer bist du?«
Die Vergangenheit hatte mich eingeholt. »Ich bin dein Opfer!«, schrie ich.
Fast demütig flehend stammelte er: »Im Unglück sind wir alle gleich.«
»O nein, das sind wir keineswegs!«
»Die Welt ist aus den Fugen geraten«, jammerte er. »Der Führer des Heers hat gegen den König rebelliert und ihn umgebracht. Jetzt sitzt er auf seinem Thron.«
Meine Leidensgefährten und ich spürten, wie das Leben in uns zurückkehrte. Ein Freudenschauder überlief mich.
»Was ist jetzt da oben los?«, fragte jemand.
»Die Anhänger des Königs sind alle tot, mich hat man zu lebenslanger Haft verurteilt.«
Erfüllt von den schönsten Hoffnungen, ließen die Männer den neuen Gott hochleben.
»Erinnerst du dich nicht mehr an mich?«, fuhr ich den Alten wütend an.
»Wer bist du?«, fragte er ängstlich.
»Ich bin der Besitzer von Arusa, erinnerst du dich jetzt an mich?«
Erschrocken wich er zurück.
»Was ist mit ihr passiert, du Schurke?«
»Wir wollten mit einer Karawane ins Halbaland fliehen«, flüsterte er. »Aber dann hat man mich verhaftet, und sie ist allein abgereist.«
»Was ist mit ihren Kindern?«
»Ich bin mit ihr ins Maschrikland gefahren, um die Kinder zu suchen. Aber wir haben sie nicht gefunden. Das ist alles schon sehr lange her.«
Ich vergaß meine Traurigkeit und manch anderes auch, doch meine Wut stieg ins Unermessliche. »Du bist kein Weiser, sondern ein hundsgemeiner Verbrecher!«, schrie ich. »Es hat dir nichts ausgemacht, ein falsches Zeugnis abzulegen, nur um mir meine Frau zu nehmen. Gut, dass du hier sitzt, ein schneller Tod wäre eine zu leichte Strafe für dich.«
Von oben durch den Schacht rief der Wächter, dass ich mich von ihm entfernen solle. Plötzlich übermannte mich frischer Lebensmut, und das war wohl zu viel für meinen geschwächten Körper, denn ich taumelte, als ich an meinen Platz zurückging. Ich setzte mich auf mein Fell, lehnte mich mit dem Rücken an die Mauer an und streckte die Beine aus. Wieder verspürte ich den warmen Hauch des Lebens. Ich hätte den Kerl gerne gefragt, wie viel Zeit inzwischen vergangen war, aber der Gedanke, noch einmal mit ihm ins Gespräch zu kommen, war mir verhasst. Er hingegen wandte den Blick nicht von mir ab, und schließlich sagte er: »Es tut mir Leid, und ich bereue, was ich getan habe.«
»Einem wie dir steht Reue nicht zu«, stieß ich verbittert hervor.
»Ich habe meine Strafe schon seit langem bekommen«, fuhr er fort. »Weil ich mit einer Frau gelebt habe, die nie aufgehört hat, mich zu hassen.« Leise, als spreche er mit sich selbst, murmelte er: »Zwanzig Jahre lang versuchte ich vergeblich, ihr Herz zu erobern.«
Zwanzig Jahre! Wie viele Jahre verlorenen Lebens.
Da hatte ich die Antwort auf meine nicht gestellte Frage, und sie traf mich wie ein Dolchstoß. Was für ein seltsamer Reisender, der bereits Mitte vierzig war und eines Tages in diesem Loch sterben würde, ohne auch nur ein Ziel erreicht zu haben, ohne das Vergnügen am Leben ausgekostet zu haben, ohne auch nur einer Pflicht nachgekommen zu sein. Und dass sich dieser Schurke hier bei mir, in diesem Grab, befand, machte mein Elend nur noch größer. Er war die leibhaftige Erinnerung an meine Fehlschläge, an mein Unglück, an mein Scheitern. Die Gesichter meiner Leidensgefährten hingegen glühten vor Freude, hofften sie doch allen Ernstes darauf, in der nächsten Stunde begnadigt zu werden.
Was ich nicht für möglich gehalten hatte, geschah. Eines Tages erschien der Gefängnisdirektor und erklärte : »Es ist der Wille des neuen Gottes, den Opfern des abgesetzten, falschen Königs die Freiheit zu schenken.«
Wir sprangen auf, brachten Hochrufe auf den neuen Gott aus und schworen ihm Treue. Einer nach dem anderen trat ins Freie, nur der alte Desing blieb an seinem Platz. Da wir uns an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bedeckten wir, um uns vor dem hellen, schmerzenden Licht zu schützen, die Augen mit den Händen. Ein Offizier brachte mich zum Fremdenbüro, wo mich der Direktor empfing. »Es tut uns Leid«, sagte er, »dass Ihnen solch schweres Unrecht angetan wurde. Damit wurde gegen alle Gesetze und Prinzipien des Hairalands verstoßen. Wir haben beschlossen, Ihnen Ihr Hab und Gut zurückzuerstatten, mit Ausnahme der Sklavin. Sie hat das Land verlassen.«
Auf der Stelle suchte ich ein öffentliches Bad auf und ließ mir Kopf und Körper rasieren. Ich nahm ein heißes Bad und rieb meinen Körper mit Balsam ein, um die Läuse und Wanzen zu vertreiben. Danach ging ich zum Gasthaus. Ich war gespannt, wie die Begegnung mit Herrn Ham ausfallen würde. Doch leider traf ich ihn nicht an, er war gestorben. Sein Neffe, er hieß Tad, hatte Herrn Hams Tochter geheiratet und leitete nun das Gasthaus. Die Überraschung, vor Herrn Ham zu treten, fiel also aus, dafür bot sich mir eine andere, nämlich ich selbst, als ich. vor den Spiegel trat. Das also war Kindil, der zwanzig Jahre lang in einem Grab gelegen hatte und nun vom Tod auferstanden war. Vor mir stand ein Mann in reifem Alter, Kopf und Bart frisch rasiert, abgemagert bis auf die Knochen, eingesunkene, düstere Augen, stumpfer Blick, hervorstehende Wangenknochen. Da beschloss ich, so lange in Haira zu bleiben, bis Körper und Geist wieder zu Kräften gekommen waren. Ich trat hinaus auf die Straße, um einen Spaziergang zu machen. Es ging mir nicht darum, Neues zu entdecken, sondern meine Füße ans Gehen zu gewöhnen.
Meine Gedanken kreisten um die Frage, wie meine Zukunft aussehen würde. Sollte ich in die Heimat mit leeren Händen zurückkehren oder meine Reise fortsetzen, um Neues zu erkunden und an die Türen des Schicksals zu klopfen? Ich hasste den Gedanken, als Versager zurückzukehren. Außerdem sagte mir mein Herz, dass man mich bestimmt für tot hielt und niemand auf mich wartete oder sich Gedanken um meine Heimkehr machte. Es war ja durchaus möglich, dass die Menschen, an denen mir etwas lag, gestorben waren. Dann würde ich nichts Vertrautes, sondern nur Fremdes wiederfinden. Nein, zurückkehren würde ich nicht. Ich wollte nicht zurückschauen. Als Reisender war ich aufgebrochen, also würde ich meine Reise auch fortsetzen. Dazu hatte ich mich entschieden, und das war mein Schicksal. Traum und Tat gehören zusammen wie Anfang und Ende. Also auf ins Halbaland, und weiter und weiter, bis ins Gaballand. Ach, meine liebste Arusa, wie magst du wohl nun, mit vierzig Jahren, aussehen?