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Das Halbaland

So träge die letzten Tage verflossen waren, so bedächtig und würdevoll setzte sich die Karawane in Gang. Der Aufbruch fand im zarten Dunkel des Morgengrauens statt, aber dieses Mal geriet ich nicht in eine dichterische Stimmung, sondern es bedrängten mich schmerzliche Erinnerungen an das Gefängnis und der Kummer über ein vertanes Leben. Ich sah mir meine Reisegefährten an, und gehörten sie auch einer neuen Generation an, zeichneten sie doch Eigenschaften aus, die Händlern schon immer eigen waren — Tatkraft, das Mehren von Geld, die Ruhmessucht der Abenteurer. Mit Träumern, die zögern und zaudern, hatten sie nichts zu tun. All meine früheren Fehlschläge stürmten auf mich ein — die Stunde des Abschieds in der Heimat, die vom Schmerz um Halima gezeichnet war; der Tag, an dem ich aus dem Maschrikland gejagt wurde und um Arusa weinte; der Moment, da ich dem Hairaland Lebewohl sagte und den Verlust von Glück und Jugend beklagte. Ich merkte auf, schaute in Richtung Osten : Rosigen Wellen gleich überflutete die Dämmerung den Himmel, und die Sonne stieg stetig, wie in den letzten zwanzig Jahren auch, höher und höher. Vor uns erstreckte sich die endlose Wüste in ihrer ganzen Erhabenheit, ein heißer Sommertag kündigte sich an.

Bei einer Rast fragte ich den Besitzer der Karawane nach al-Kani Ibn Hamdis. »Gott sei seiner armen Seele gnädig«, bekam ich zur Antwort. Ich fragte ihn auch nach Scheich Marara al-Gibaili, aber weder er noch die anderen Männer hatten den Namen je gehört. Vier Wochen waren wir unterwegs, bis wir endlich vor der Grenze des Halbalands in Schama Halt machten. Mein Bart wuchs, das Haar auf dem Kopf auch, und ich spürte, wie das Blut in meinen Adern wieder kräftig pulsierte. Im Schein der Mondsichel rückten wir auf das große Stadttor vor. Der Kommandant, der für den Zoll zuständig war, trat heraus. Bekleidet mit einer leichten Jacke, die der warmen Sommerzeit angemessen war, kam er zu uns. Mit fröhlicher Stimme rief er: »Willkommen in Halba, der Hauptstadt des Halbalands, dem Land der Freiheit.«

Hier war es wieder, dieses verfluchte Wort Freiheit — andererseits war ich erstaunt, dieses Mal keine versteckte oder offene Warnung herauszuhören. »Das ist das erste Land, in dem Fremden nicht als Erstes gedroht wird«, sagte ich zum Besitzer der Karawane.

Er lachte. »Sicher, das ist das Land der Freiheit, aber als Fremder sollte man dennoch auf der Hut sein.«

Man brachte mich ins Gasthaus. Unterwegs zeigten sich mir im Mondenlicht die Sehenswürdigkeiten der Stadt, sie waren beeindruckend. Vor allem bot sich mir aber ein völlig neuer Anblick: von Fackeln beleuchtete Sänften, die trotz der späten Stunde kamen und gingen. Die Eingangshalle des Gasthauses war angenehm geräumig, und von der Decke hingen Kronleuchter herab, an denen sich mein Auge nicht satt sehen konnte. Das Gasthaus selbst war ein gewaltiges Gebäude, bei dem sich die Kunst des Bauens und die Gnade des Reichtums in schönster Weise verbanden. Ich betrat mein Zimmer und erlebte die nächste Überraschung: Die Wände waren blau gestrichen, den Boden bedeckte ein teurer Teppich, und auf dem hochbeinigen Messingbett lagen brokatene Decken. Solch eine kostbare Ausstattung gab es in meiner Heimat nur in den Häusern der Oberschicht. All das deutete daraufhin, dass es in diesem Land einen Grad an Zivilisation gab, der den im Hairaland noch um etliches übertraf. Plötzlich ertappte ich mich wieder einmal bei der Frage, wo Arusa sich jetzt wohl befand und wie es ihr gehen mochte. Noch bevor ich mich meinen Erinnerungen überlassen konnte, kam ein Mann mittleren Alters ins Zimmer, der eine blaue Jacke und kurze weiße Hosen trug. »Ich bin Kaischam, der Besitzer des Gasthauses«, erklärte er.

Nachdem ich mich vorgestellt hatte, fragte er, ob ich einen Wunsch habe. »Ich möchte erst einmal schlafen«, erwiderte ich, »aber ich würde gern wissen, was das Zimmer kostet.«

»Pro Nacht drei Dinar.«

Ich bekam einen Schreck. Offenbar genoss hier alles und jeder seine Freiheit, selbst die Preise. Wie es meine Gewohnheit war, bezahlte ich für zehn Tage im Voraus.

Ich legte mich ins Bett; seit meinem Aufbruch aus der Heimat hatte ich mich nicht mehr so gut aufgehoben gefühlt. Ich wachte früh auf. Das Frühstück wurde mir aufs Zimmer gebracht, es bestand aus Brot, Milch, Käse, Butter, Honig und Eiern. Nicht nur, dass alles reichlich vorhanden war, es schmeckte auch vorzüglich. Das bestärkte mich in meiner Überzeugung, dass ich tatsächlich in einer neuen, aufregenden Welt angekommen war. Nach dem Frühstück trieb mich die sehnsuchtsvolle Hoffnung hinaus, dass das Spiel des Schicksals zu einem guten Ende kommen und mir durch Zufall Arusa über den Weg laufen würde.

In der Eingangshalle trat Herr Kaischam an mich heran. »Wir bieten unseren Gästen, die sich die Stadt ansehen möchten, die Möglichkeit, sich einer Sänfte zu bedienen.«

Ich dachte kurz nach, bevor ich sagte: »Danke, aber ich würde gern allein herumschlendern und ganz nach Belieben die Zeit verbringen.«

Die Stadt war so groß, dass ich vom ersten Augenblick an das Gefühl hatte, als Einzelner nicht beachtet zu werden und in der Menschenmasse völlig unterzugehen. Vor dem Gasthaus befand sich ein weiträumiger, runder Platz, der von großen Gebäuden und Geschäften gesäumt war. Ich überquerte ihn und kam an eine Brücke, die sich über einen Fluss wölbte. Sie führte auf einen kleinen Platz, von dem aus viele große, endlos lange Straßen abzweigten. Dicht an dicht drängten sich Gebäude, und es gab viele Bäume. In welche Richtung sollte ich gehen? Wo war Arusa? Wie wollte ich mich hier ohne Führer zurechtfinden? Ich beschloss, in dieser Stadt der Freiheit meinen Füßen völlige Freiheit zu lassen. Bei jedem Schritt geriet ich mehr ins Staunen. Es gab Straßen über Straßen, sie kreuzten sich, zweigten voneinander ab, und bei keiner konnte ich den Anfang noch das Ende erkennen. Zu erwähnen bleibt, dass in jeder Straße berittene Polizei zu sehen war. Gebäude, Häuser, Paläste reihten sich aneinander, und die Zahl der Geschäfte, die vor Waren überquollen, war so unermesslich wie Sandkörner in der Wüste. Ich kam an Fabriken, Handelsfirmen, Vergnügungsstätten vorbei, und immer wieder gelangte ich in Parks, die, was Farben und Formen betraf, ganz unterschiedlich angelegt waren. Und der Strom von Menschen und Sänften riss nicht ab — Frauen und Männer, Reiche und Arme. Wobei ich feststellen konnte, dass die Armen hier um etliches besser genährt und gekleidet aussahen als im Maschrik- oder im Hairaland. Es gab viel Schönheit und Eleganz zu sehen, manche Menschen legten auch Wert auf Bescheidenheit. Andere hingegen wollten zeigen, dass sie, was Sitte und Anstand betraf, ihre eigenen Regeln hatten, weshalb sie halb nackt herumliefen. Ernst und Gesetztheit verbrüderten sich mit Fröhlichkeit und Schlichtheit, und mir schien, als begegnete ich zum ersten Mal Menschen, die ihr eigenes Leben lebten, die sich ihres Wertes bewusst und stolz auf sich waren. Wo aber sollte ich in diesem wogenden Meer ohne Ufer zufällig auf Arusa stoßen? Ich lief weiter und weiter, und wurde ich müde, setzte ich mich in einen Park und ruhte aus. Und die ganze Zeit über hatte ich das Gefühl, mit der Erkundung der Stadt noch gar nicht angefangen zu haben. Ich bereute es zutiefst, das Angebot von Herrn Kaischam, in eine Sänfte zu steigen, nicht angenommen zu haben.