Zwei Vorfälle weckten mein Interesse. In einem Park beobachtete ich, dass Polizisten einigen Spaziergängern Fragen stellten. Als ich mich umhörte, erfuhr ich, dass ein Gärtner in einem Gebüsch eine ermordete Frau entdeckt hatte. Nun gut, Ähnliches gibt es überall. Der zweite Vorfall machte mich nicht nur neugierig, sondern bestürzte mich geradezu. Ich geriet in einen Protestmarsch, an dem Frauen und Männer teilnahmen. Sie schrien und riefen ihre Forderungen, und die Polizisten hielten den Zug nicht auf, sondern folgten ihm in einem gewissen Abstand. Ich erinnerte mich an eine ähnliche Situation in meiner Heimat, bei der eine Menge Menschen vor dem Sultanspalast ihren Unmut über eine Steuererhöhung zum Ausdruck gebracht hatten. Aber hier ging es um etwas ganz anderes, nämlich um die gesetzliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Beziehungen! Ich traute meinen Augen und Ohren nicht, war restlos überzeugt, dass ich es mit einer sehr fremden Welt zu tun hatte, mehr noch, dass zwischen dieser Welt und mir ein tiefer Abgrund klaffte. Angesichts von all dem Unbekannten, das da lauerte, bekam ich es mit der Angst zu tun.
Die Mittagszeit rückte näher, und trotz der angeblich erträglichen Sommertemperaturen wurde es heiß. Gerade wollte ich mich nach dem Weg zum Gasthaus erkundigen, da hörte ich den Ruf: »Gott ist groß!«
Mein Herz machte einen Satz, und mir wurde siedend heiß. Herr im Himmel, das war der Ruf zum Gebet! Da rief ein Muezzin! War das Halbaland etwa ein islamisches Land? Ich stürzte in die Richtung los, aus der der Ruf gekommen war, und tatsächlich, gleich vorn in einer Straße stand eine Moschee. Seit einem Vierteljahrhundert hatte ich weder diesen Ruf gehört noch eine Moschee gesehen. Ich fühlte mich wie neugeboren, und mir war, als hätte ich zum ersten Mal zu Gott gefunden. Ich betrat die Moschee, vollzog die rituelle Waschung und ordnete mich in die Reihe der Betenden ein. Mit Tränen in den Augen hob ich das Mittagsgebet an, und es erfüllte mich eine solche Freude, dass mir das Herz ganz leicht wurde. Nach dem Gebet leerte sich die Moschee, nur ich blieb hocken. Erst als ich mit dem Imam allein war, stürzte ich zu ihm. Ich schloss ihn in die Arme und küsste ihn heftig ab. Er hielt meiner ungestümen Erregung lächelnd stand, bis er schließlich murmelte: »Herzlich willkommen, Fremdling.«
Wir setzten uns unweit der Gebetsnische hin. Nachdem ich mich vorgestellt hatte, nannte er seinen Namen — Scheich Hamada as-Sabki. Er sei hier im Halbaland geboren, sagte er.
Mit bebender Stimme stammelte ich: »Ich habe nicht gedacht, dass das ein islamisches Land ist.«
»Das ist es auch nicht«, erwiderte er bedächtig. Als ich ihn überrascht anschaute, fügte er hinzu: »Es ist das Land der Freiheit, und deshalb sind hier alle Religionen vertreten. Es gibt Moslems, Juden, Christen und Buddhisten. Es gibt sogar Ketzer und Heiden.«
Ich starrte ihn entgeistert an. »Wie kann das sein?«
Er lächelte. »Ursprünglich war das Halbaland ein rein heidnisches Land, aber da zu seinen Grundfesten die Freiheit gehört, durfte jeder Gläubige seine Religion nicht nur ausüben, sondern auch für sie werben.
So kam es, dass sich die verschiedenen Religionen in der Bevölkerung verbreitet haben. Heiden gibt es nur noch in einigen Oasen.«
Ich hörte mit wachsender Spannung zu. »Und welche Glaubensrichtung ist die Staatsreligion?«
»Der Staat mischt sich in Glaubensfragen nicht ein.«
»Aber wie wird erreicht, dass die verschiedenen Bekenntnisse miteinander auskommen?«
»Sie genießen alle die gleichen Rechte.«
»Und damit sind sie einverstanden?«, fragte ich, und meine Stimme hörte sich beinah empört an.
»Jede Religion hat natürlich ihre eigenen Traditionen und Werte, aber die gegenseitige Achtung ist ein allgemeines Gebot. Keine Gruppe genießt Vorrechte, und selbst wenn das Staatsoberhaupt einer bestimmten Glaubensrichtung angehört, spielt das keine Rolle. Nebenbei gesagt, ist unser derzeitiger Präsident ein Heide.«
Was für ein seltsames Land! Ich war fassungslos, mir brummte der Schädel. »Von so einer Art von Freiheit habe ich noch nie gehört. Darf ich fragen, verehrter Meister, ob man Ihnen von der Kundgebung berichtet hat, bei der es um die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Beziehungen ging?«
»Sicher, es haben ja auch Moslems daran teilgenommen.«
»Was? Da wird ihre Strafe nicht gering ausfallen.«
Der Scheich nahm den Turban ab, strich sich über den Kopf und setzte den Turban wieder auf. »Die Freiheit ist ein Wert, der allen heilig ist.«
»Aber diese Freiheit überschreitet bei weitem die Grenzen des Islam!«, rief ich empört.
»Sie gilt auch dem hiesigen Islam als heiliger Wert.«
Enttäuscht murmelte ich: »Würde unser Prophet auferstehen und müsste er das erleben, würde er eure Art von Islam auf das Schärfste verurteilen.«
»Würde er, Heil und Segen über ihn, auferstehen, müsste er dann nicht euren Islam auch verurteilen?«, fragte er zurück.
Wie Recht der Mann hatte, ich fühlte mich zutiefst beschämt.
»Ich kenne mich aus, denn ich bin oftmals in den Ländern des Islam herumgereist.«
»Deshalb bin ich aufgebrochen, Scheich Hamada. Ich wollte mein Heimatland aus der Ferne sehen und mit anderen Ländern vergleichen. Vielleicht habe ich, wenn ich zurückkehre, nützliche Ratschläge im Gepäck.«
»Daran tun Sie gut, möge Gott Ihnen Erfolg schenken. Unser Land wird Sie vieles lehren.«
Meine Neugier war geweckt. »Wenn Sie gestatten, könnten wir gelegentlich weitere Gespräche führen. Im Augenblick würde ich vor allem gern wissen, wer in diesem seltsamen Land die Macht ausübt.«
»Unser System ist einzigartig. Ähnliches haben Sie noch nicht kennen gelernt und werden es auch nicht kennen lernen.«
»Nicht einmal im Gaballand?«
»Ich kenne die dortigen Verhältnisse nicht gut genug, um einen Vergleich anzustellen. Sie müssen wissen, dass unser Präsident gewählt wird. Wer sich für das Amt bewirbt, wird nach geistigen, moralischen und politischen Gesichtspunkten beurteilt. Die Amtszeit dauert zehn Jahre, dann tritt der Präsident zurück. Bis zur Wahl, für die der zurückgetretene Präsident durchaus nochmals kandidieren darf, übernimmt der Oberste Richter das Amt.«
»Großartig!«, rief ich begeistert.
»Die Moslems hätten gut daran getan, diese Ordnung als Erste einzuführen. Übrigens steht dem Präsidenten ein Rat von Sachkundigen zur Seite, die ihm in allen Fragen helfen, sich eine Meinung zu bilden.«
»Ist dann seine Meinung bindend?«
»Gibt es unterschiedliche Auffassungen, tritt die gesamte Regierung zurück, und es gibt Neuwahlen.«
»Das ist ja fantastisch!«
»Was die Landwirtschaft, die Industrie und den Handel betrifft, werden diese Bereiche von leistungsstarken und sachverständigen Kräften geleitet.«
»Also gibt es Reiche und Arme.«
»Wie es auch Arbeitslose, Diebe und Mörder gibt.«
Ich schmunzelte. »Nun ja, vollkommen ist nur Gott«, bemerkte ich etwas ironisch.
Er sah mich ernst an. »Wir haben beachtliche Verbesserungen erreicht.«
»Ihr braucht doch bloß die islamische Gesetzgebung einzuführen!«