»Bei euch ist sie geltendes Recht. Und weiter?«
»Ist sie eben nicht«, erwiderte ich trotzig.
»In diesem Land ist jeder einer grundlegenden Doktrin verpflichtet. Sie wird nach Buchstabe und Geist angewendet.«
»Also ist die Regierung nur für die innere Sicherheit und die Landesverteidigung verantwortlich?«
»Und für öffentliche Anliegen, die einzelne Leute nicht übernehmen können, zum Beispiel der Unterhalt von Parks, Brücken, Museen. Es gibt auch staatliche Schulen, in denen begabte Kinder aus armen Familien kostenlos eine Ausbildung erhalten. Das Gleiche gilt für Krankenhäuser. Aber im großen Ganzen ruht die Verantwortung auf den Schultern Einzelner.«
Ich überlegte ein Weilchen, bevor ich sagte: »Wahrscheinlich haltet ihr euch für das glücklichste Volk auf Erden.«
»Es ist alles relativ zu sehen, Kindil. Solange es Arme und Reiche gibt, solange Menschen Verbrechen begehen, ist eine solche Einschätzung vermessen. Abgesehen davon ist unser Leben nicht frei von Ängsten, denn sowohl wir als auch das Hairaland im Süden und das Amanland im Norden werden von Begehrlichkeiten getrieben. Diese einzigartige Zivilisation ist bedroht, sie könnte in einer Schlacht mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden. Selbst ein Sieg könnte den Untergang bedeuten, wenn nämlich die Schäden zu groß sind und uns zu Grunde richten. Außerdem muss ich einräumen, dass die Differenzen zwischen den Religionen nicht immer friedlich ausgetragen werden.«
Er hielt inne, dann fragte er mich nach meinen Reiseplänen. Ich erzählte ihm kurz, was ich seit der Abreise aus meiner Heimat erlebt hatte. Er schaute mich mitleidig an und wünschte mir Glück und Erfolg auf den Weg. »Ich würde Ihnen raten, eine Sänfte zu mieten, denn zu Fuß schaffen Sie es nicht, die vielen Sehenswürdigkeiten zu erkunden. Es gibt auch noch andere Städte, die Sie besuchen sollten. Und was Ihre Arusa betrifft, so wird es leichter sein, das Gaballand zu erreichen, als sie hier durch Zufall zu finden.«
»Ich weiß«, antwortete ich bedrückt. »Aber ich habe noch eine Bitte, ich würde gern den Weisen des Landes besuchen.«
»Was soll das?«, fragte er verdutzt. »Das Maschrikland hat seinen Weisen, ebenso das Hairaland. Aber wir haben Wissenschaftszentren, in denen es von Weisen nur so wimmelt. Jeder von ihnen kann Ihnen Ihre Fragen beantworten.«
Ich dankte ihm für das Gespräch und sein freundliches Entgegenkommen. »Es ist Zeit für mich, ich werde gehen.«
Er hielt mich am Arm zurück. »Ach was, wir werden gemeinsam zu Mittag essen.«
Ich nahm die Einladung dankend an, bot sich mir doch damit die Gelegenheit, einen Einblick in das Leben einer hiesigen Familie zu erhalten. Wir gingen etwa eine Viertelstunde zu Fuß, bis wir in eine ruhige Straße kamen, die auf beiden Seiten von Akazienbäumen gesäumt war. Das Haus, in dem der Scheich im zweiten Stock wohnte, machte einen gediegenen Eindruck. Noch viel gelungener war aber die Einrichtung des Salons, und da der Scheich zweifelsohne zur Mittelklasse gehörte, sprach das für den gehobenen Lebensstil im Halbaland.
Gleich beim Betreten der Wohnung sollte ich ein Verhalten kennen lernen, das in meiner islamischen Heimat als höchst unschicklich gegolten hätte: Nicht nur die zwei Söhne begrüßten mich an der Tür, sondern auch seine Frau und seine Tochter. Aber das befremdliche Benehmen ging noch weiter, denn wir setzten uns alle gemeinsam an einen Tisch, und es wurde Wein gereicht. Das war wirklich eine neue Welt mit einem ganz neuen Islam. Die Anwesenheit der Ehefrau und der Tochter brachte mich in Verlegenheit, denn seit ich den Kinderschuhen entwachsen war, hatte ich nie mehr mit einem weiblichen Wesen an einem Tisch gesessen, nicht einmal mit meiner Mutter. Die Situation war mir peinlich, und ich fühlte mich in meiner Haut sehr unwohl. Den Wein rührte ich nicht an.
»Jeder machts, wie es ihm gefällt«, sagte der Scheich lächelnd.
»Offenbar halten Sie es mit der Lehrmeinung von Abu Hanifa[8]«, erwiderte ich.
»Das brauche ich nicht, wir bilden uns hier unsere eigene Meinung. Sicher, wir trinken ein Glas Wein, wenn das Wetter oder die Umstände danach sind, aber wir würden uns nie betrinken.«
Seine Frau kümmerte sich ausschließlich um den Haushalt, aber die Tochter, sie hieß Samija, arbeitete in einem großen Krankenhaus als Kinderärztin. Die beiden Söhne steckten noch in der Lehrerausbildung. Dass Mutter und Tochter völlig ungezwungen an der Unterhaltung teilnahmen, brachte mich mehr aus der Fassung als die Nackten im Maschrikland. Sie mischten sich spontan ein, redeten selbstbewusst und taten ihre Meinung kund, ganz so, als säßen Männer mit Männern zusammen. Samija fragte mich zum Beispiel über das Leben der Frauen im Land des Islam aus, und nachdem ich die Situation geschildert hatte, übte sie erbitterte Kritik an den dortigen Verhältnissen. Sie verglich sie mit der Lage der Frau zur Zeit des Propheten, und ihre Rede gipfelte in dem Satz: »Der Islam verkümmert euch unter den Händen, und ihr schaut zu.«
Ich war zutiefst beeindruckt von ihrer jugendlichen Schönheit, was zum großen Teil auch daran lag, dass ich lange nichts mehr mit einer Frau zu tun hatte und im vorgerückten Alter stand. Der Scheich erzählte ein wenig von meinem Leben und was ich mit dieser Reise erreichen wollte. Er schloss mit dem Satz: »Jedenfalls gehört er nicht zu denen, die schnell aufgeben.«
»Sie verdienen es, bewundert zu werden«, sagte Samija, und ich war zutiefst gerührt.
Es war Nachmittag geworden. Wir stellten uns hinter dem Imam auf, um gemeinsam zu beten — ein Umstand, der mich noch nachdenklicher stimmte. Als ich mich verabschiedete, verließ ich die Familie nur körperlich; Geist und Seele hielten diese Menschen ganz und gar gefangen. Es erfüllte mich eine tiefe Sehnsucht nach einem beständigen Leben, das mir Liebe, Zärtlichkeit und Wärme spendete. Wo war Arusa? Wo das Gaballand? Die Jugend — verloren gegangen in einem Loch unter der Erde. Wann würde ich mich endlich niederlassen und eine Familie gründen und Nachkommen zeugen? Wie lange würde ich mich noch zwischen zwei Rufen aufreiben?
Am nächsten Tag mietete ich eine Sänfte und ließ mir die Sehenswürdigkeiten der Stadt zeigen — Ausbildungszentren, Zitadellen, große Fabriken, Museen, die alten Viertel. Mein Führer erzählte mir, dass die verschiedenen Glaubensgemeinschaften in Moscheen, Kirchen und Tempeln das Leben ihrer Propheten darstellen. Also sagte ich ihm, dass ich mir solch eine Darstellung, bei der es um das Leben unseres Propheten ging, Heil und Segen über ihn, gern ansehen würde. Erbrachte mich zur größten Moschee der Stadt. Ich nahm zwischen den Zuschauern Platz, und dann begann die Vorstellung. Das ganze Leben des Propheten lief vor mir von Anfang bis Ende ab. Ich sah Ihn, seine Gefährten und die Schar der Ungläubigen, und das kam mir so verwegen vor, dass es für mich schon fast an Gotteslästerung reichte. Aber als Chronist musste ich ja alles kennen lernen. Die Person, die den Propheten spielte, tat das dermaßen überzeugend, dass ich glaubte, Ihn zu sehen. Hingerissen verfolgte ich das Geschehen, ähnlich erregt war ich noch nie gewesen. Was mich dabei am meisten verwunderte, war, dass diese Menschen durchaus aufrichtige und ernsthafte Gläubige waren.
Ich lud den Imam und seine Familie zum Mittagessen ins Gasthaus ein, denn es lag mir viel daran, diese Beziehung zu festigen. Bei der Gelegenheit teilte mir der Imam mit, dass er mit einem sehr bedeutenden Weisen gesprochen habe und dieser Mann, er heiße Marham al-Halabi, bereit sei, mich am nächsten Tag zu empfangen. Hocherfreut dankte ich ihm für seine freundliche Fürsorge. Wir verbrachten eine schöne Zeit miteinander; schon lange hatte ich mich nicht mehr so entspannt gefühlt.
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