Als ich mich am nächsten Morgen auf den Weg zu dem Weisen machen wollte, stieß ich in der Eingangshalle auf eine Menge Gäste, die aufgeregt durcheinander redeten.
»Es heißt, dass im Hairaland ein Kommandant den König stürzen wollte und er, nachdem ihm dies nicht gelungen sei, ins Halbaland geflüchtet wäre.« »Soll das heißen, dass er jetzt hier ist?« »Angeblich hält er sich in einer Oase auf.« »Viel wichtiger ist, dass der König dessen Verhaftung und Auslieferung gefordert hat.«
»Aber das verstößt gegen die Prinzipien der obersten Doktrin!«
»Deshalb wurde die Auslieferung auch abgelehnt.« »Ob die Angelegenheit damit erledigt ist?« »Man munkelt schon, dass es Krieg geben könnte.« »Was ist, wenn das Amanland die Gelegenheit nutzt und das Halbaland überfällt?« »Genau das ist das Problem.« Unruhe beschlich mich. Die Kriege trieben mich von einem Land zum nächsten. Ich trat vor die Tür, kam aber nicht weit. Massen von Menschen zogen über den Platz, riefen die unterschiedlichsten Losungen. Es waren verschiedene Kundgebungen, die auf mich den Eindruck machten, als seien sie von langer Hand geplant. Ich war gezwungen, stehen zu bleiben, und was ich da sah und hörte, konnte ich schier nicht glauben. Der eine Zug Menschen verlangte die Auslieferung des Kommandanten, der andere Zug warnte hitzig vor den Folgen. Wieder ein anderer Zug forderte, dem Hairaland den Krieg zu erklären, der nächste bestand auf Frieden, koste es, was es wolle. Ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte, und die Frage, wie ein Herrscher diesem Wirrwarr unterschiedlichster Meinungen begegnen sollte, ließ nicht von mir ab. Ich wartete, bis sich der Platz geleert hatte, und dann stürzte ich los. Vor einer Stunde hätte ich bereits beim Weisen sein sollen. Er empfing mich in einem elegant eingerichteten Raum, in dem nicht nur Sofas und Sessel standen, sondern auch Polster auf dem Boden lagen. Er war ein großer, schlanker Mann mit weißem Haar und Bart, so an die sechzig Jahre alt. Er trug eine leichte, blaue Abaja. Ich entschuldigte mich für mein Zuspätkommen, er winkte ab und hieß mich willkommen.
»Möchten Sie in einem Sessel Platz nehmen, oder ziehen Sie ein Polster vor?«, fragte er.
Ich lächelte. »Ein Polster wär mir lieber.«
Er lachte laut los. »So seid ihr Araber, ich kenne euch. Ich habe eure Länder oft bereist und mich gründlich mit eurem Wissen beschäftigt.«
»Ich gehöre nicht zu den Gelehrten meines Landes«, erwiderte ich verschämt. »Ich bin auch kein Philosoph. Aber ich will mein Wissen erweitern, und deshalb habe ich diese Reise angetreten.«
»Allein das zählt«, sagte er aufmunternd. »Was ist das Ziel dieser Reise?«
Ich dachte eine Weile nach, dann sagte ich: »Das Gaballand zu besuchen.«
»Ich weiß von niemandem, der es kennt oder darüber geschrieben hat.«
»Und Sie? Haben Sie nie daran gedacht, sich dieses Land anzusehen?«
Er lächelte. »Wer auf seinen Verstand setzt, kann auf vieles andere verzichten.«
»Es geht mir nicht«, fügte ich hastig hinzu, »um das Gaballand an und für sich, sondern ich will meiner Heimat von dort etwas Nützliches mitbringen.«
»Da kann ich Ihnen nur viel Erfolg wünschen.«
»Um ehrlich zu sein, liegt mir mehr daran, Ihnen zuzuhören als von mir zu erzählen«, warf ich leise ein, als wollte ich mich entschuldigen.
»Haben Sie eine bestimmte Frage?«
»Nun ja, gewöhnlich erschließt sich einem das Leben eines Volkes mittels eines grundsätzlichen Leitgedankens.«
Er richtete sich auf. »O ja, und deshalb stellen uns wissenshungrige Menschen wie Sie für gewöhnlich die Frage, worauf sich unser Leben gründet.«
»Das Leben in diesem Land verdient es, erkundet zu werden.«
»Die Antwort ist sehr einfach, wir haben unsere Lebensweise selbst geformt.« Da ich gespannt zuhörte und kein Wort sagte, fuhr er fort: »Da ist kein Gott, dem dieses Verdienst gehört. Unser erster Lehrmeister war der festen Überzeugung, dass das Ziel allen Lebens die Freiheit ist. Von ihm ging die Forderung aus, ein Leben in Freiheit zu gewährleisten. Das hat sich von Generation zu Generation fortgesetzt.« Er lächelte und wartete ab, bis ich das Gehörte verarbeitet hatte. »Deshalb erachte ich alles, was frei macht, als gut, und alles, was einen zu etwas zwingt, als schlecht. Wir haben eine Ordnung aufgebaut, die uns vor jeglicher Willkür bewahrt. Unser Handeln ist der Bekämpfung von Armut geweiht, unser Streben nach immer mehr Wissen dem Kampf gegen Unwissenheit und Dummheit. Das ist ein langer Weg, der kein Ende kennt.«
Ich lauschte angestrengt auf jedes seiner Worte, war ich doch bemüht, sie mir genauestens einzuprägen.
»Der Weg, den wir zurückgelegt haben, war nicht leicht. Schweiß und Blut waren der Preis, den wir um der Freiheit willen zahlten. Wir waren Gefangene von Aberglauben und Willkür, und als die ersten Verkünder der neuen Botschaft auftraten, fielen etliche Köpfe. Es brachen Unruhen aus, es kam zu Bürgerkriegen, aber schließlich haben Freiheit und Wissen gesiegt.«
Als ich bewundernd nickte, begann er die Verhältnisse im Maschrik- und im Hairaland zu kritisieren und sich darüber lustig zu machen. Er spottete auch über das Amanland, das ich ja noch nicht kannte. Selbst meine Heimat, das Land des Islam, blieb von seiner scharfen Zunge nicht verschont. Offenbar sah er meinem Gesicht an, dass ich unangenehm berührt war, denn er hielt inne und schwieg.
»Sie sind es wohl nicht gewöhnt«, fragte er schließlich, »dass man seine Meinung frei äußert?«
»Sicher, aber es gibt bestimmte Grenzen«, erwiderte ich betont ruhig.
»Entschuldigung, aber ich meine, dass man alles immer wieder neu prüfen muss.«
Im Gefühl, mich zur Wehr setzen zu müssen, sagte ich: »Tatsache ist, dass es in diesem Land Arme und lichtscheues Gesindel gibt.«
»Richtig, und zwar deshalb, weil mit der Freiheit nur fähige Menschen umzugehen wissen. Nicht jeder, der im Halbaland lebt, besitzt diese Eignung. Wer mit der Freiheit nicht verantwortlich umgehen kann, für den ist kein Platz hier.«
»Aber ist denn Barmherzigkeit nicht ebenso ein Wert wie Freiheit?«, fragte ich erregt.
»Das behaupten die Gläubigen der verschiedenen Religionsgemeinschaften auch immer, und genau sie sind es, die das unfähige Pack ermuntern, sich nicht zu ändern. Für mich haben Begriffe wie Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit keinen Sinn, solange man nicht genau festlegt, wer Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit verdient.«
»Da bin ich völlig anderer Meinung!«
»Ich weiß.«
»Womöglich haben Sie auch nichts gegen Krieg?!«
»Wenn er mehr Freiheit bringt, ist dagegen nichts einzuwenden. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass das Glück der Menschen im Haira- und im Amanland, wenn wir diese Länder besiegen, dauerhaft gesichert wäre. Wenn wir schon bei diesem Thema sind, will ich Ihnen sagen, dass ich durchaus ein Verfechter des heiligen Krieges im Islam bin.« Er fing an, den Begriff »heiliger Krieg« als Angriffsverhalten auszulegen, wogegen ich auf der Stelle Einspruch erheben wollte. Aber er winkte nur verächtlich ab und ließ mich nicht zu Wort kommen. »Ihr Moslems habt ein großartiges Prinzip«, erklärte er, »aber es fehlt euch der Mut, zu diesem Prinzip zu stehen.«
»Und Sie, weiser Marham? Welcher Religion gehören Sie an?«
»Der Religion, bei der die Vernunft Gott ist und die Freiheit als Prophet verehrt wird.«
»Denken alle Weisen dieses Landes so?«
Er lachte laut auf. »Es wäre schön, wenn ich das behaupten könnte.«
Er brachte mir zwei Bücher. Das Erste trug den Titel »Die Doktrin — das oberste Gesetz im Halbaland«, und der Titel des Zweiten, das er selbst verfasst hatte, lautete: »Die Erstürmung des Unmöglichen«. »Lesen Sie die beiden Bücher«, sagte er, »dann wissen Sie, wie das Halbaland wirklich ist.«