»Und warum sind Sie dann nicht noch einmal hingereist?«
»Der Alltag und die Familie haben mich davon abgehalten. Was mir am meisten am Herzen lag, war, das Gaballand zu besuchen.«
»Warum? Was gibt es dort Besonderes?«
Er seufzte. »Man hört so viel darüber, als sei es das größte Wunder unter all den Ländern. Als sei es das Vollkommenste, was es an Vollkommenem gibt.«
»Dann gibt es doch bestimmt viele Reiseberichte…«
»In meinem ganzen Leben bin ich niemandem begegnet, der je dorthin gereist ist. Und ich habe auch kein Buch und keinen Bericht über dieses Land in die Hände bekommen.«
»Unglaublich«, murmelte ich.
»Dieses Land ist ein einziges großes Geheimnis.«
Jedes Geheimnis zog mich an und stürzte mich in seine dunklen Tiefen. Der Funke hatte Feuer geschlagen, meine Fantasie blühte. Wann immer ich mich gekränkt oder beleidigt fühlte, flüchtete sich meine Seele ins Land Gabal.
Scheich Marara al-Gibaili fuhr darin fort, mir Geist und Verstand zu erleuchten, mich aus dem Dunkel zu führen und meine Begierden auf die edelsten Ziele zu lenken. Meine Mutter beobachtete voller Glück, wie ich mir Tag für Tag Neues eroberte. Die Liebe, die sie mir entgegenbrachte, trug das ihrige bei. Sie war eine schöne Frau, schlank und rank, mit reiner, heller Haut, und ihr ganzes Wesen strahlte eine große Güte aus. Es fiel ihr nicht schwer, mich zu loben, aber sie zögerte auch nicht, mich mit deutlichen Worten zu tadeln. »Manches, was du sagst, macht mich traurig«, erklärte sie einmal. Ich sah sie fragend an, und sie fuhr fort: »Es ist, als würdest du immer nur die hässliche Seite des Lebens sehen.«
Nun war es nicht so, dass sie meine Einwände in Abrede stellte oder als überzogen empfand, nein, sie verteidigte lediglich ihren Glauben, und zwar mit den Worten: »Gott ist der Schöpfer aller Dinge, und was Er tut, ist wohlgetan.«
»Es tut mir weh zu sehen, wie viel Unrecht, Armut und Unwissenheit es gibt«, hielt ich dagegen.
»Gott will, dass wir uns in alles schicken und zufrieden sind.«
Ich redete darüber mit dem Scheich, aber seine Haltung war ohnehin klar, glaubte er doch fest an den Verstand und die Freiheit, das eigene Handeln zu bestimmen. Trotzdem flüsterte er mir ins Ohr: »Vermeide es, deine Mutter zu verstimmen.«
Es war ein Ratschlag, den ich, weil ich meine Mutter sehr liebte, willig befolgte. Es fiel mir auch nicht schwer, denn die Schlichtheit ihres Denkens wurde durch ihre große Schönheit aufgewogen.
Nun war es so, dass mich die Zeit, die ich mit dem Erwerb neuen Wissens verbrachte, an die Schwelle des jugendlichen Alters führte. Da taten sich mir andere Horizonte auf, und Ströme neuen Regens ergossen sich über mich. Auf den Schauplatz meines Lebens fiel das helle Licht frisch angezündeter Fackeln.
»Was gedenkst du zu tun in diesem Leben, das sich nur durch Tätigkeit vollendet?«, fragte mich Scheich Marara al-Gibaili.
Aber mich interessierte etwas ganz anderes, denn seit kurzem sah ich Halima Adli al-Tantawi mit anderen Augen. Bisher war sie für mich immer nur ein Mädchen gewesen, das seinen blinden Vater, den Koranrezitator, an der Hand führte. Die beiden bewohnten in unserem Viertel ein kleines, altes Haus, neben dem sich unser Haus geradezu wie ein strahlender Stern ausnahm. Der Vater hatte mich immer viel mehr als das Mädchen interessiert. Dieser abgemagerte Mann mit den trüben Augen und der groben, pockennarbigen Nase tat mir nicht nur Leid, sondern ließ mich auch staunen. Ich bewunderte seine schöne volle Stimme, wenn er vor seinem Haus, ohne dass ihn jemand darum ersucht hatte, zum Gebet rief. Wie im Fluge gingen die Tage dahin, und plötzlich entdeckte ich dieses Mädchen. Und das kam so: Vater und Tochter gingen vorsichtig die Straße entlang, denn es hatte zuvor geregnet, und das Pflaster war glatt. Der Scheich stützte sich mit dem linken Arm auf das Mädchen, während er in der rechten Hand einen derben Stock hielt, mit dem er in gleichmäßigem Rhythmus den Boden abtastete. Für mich sah das aus, als würde ein Huhn auf der Suche nach einem Korn mit dem Schnabel im Sand picken. Halima war in einen dunklen, wallenden Gilbab[5] gekleidet, und unter dem Schleier, der Kopf und Gesicht verhüllte, waren nur die Augen zu erkennen. Trotzdem schien mir, jugendlich beschwingt wie ich war, ihre Gestalt ein Wunder an Weiblichkeit zu sein. Kam eine leichte Brise auf, die mit ihrem Gilbab spielte, funkelte ihr Schmuck wie Glut in der Asche. Auf einmal geriet sie ins Rutschen, und um das Gleichgewicht zu halten, ging ein Ruck durch ihren Körper. Das hatte zur Folge, dass ihr Kopf eine unwillkürliche Bewegung machte und der Schleier verrutschte. Für einen kurzen Moment erblickte ich ihr Gesicht — es war so schön, dass ich bis in den tiefsten Grund meines Körpers erschauderte. Ein flüchtiger Augenblick, und doch hatte mich eine Botschaft erreicht, die alle Winke des Herzens in sich barg.
Meine Mutter, die noch die Worte von Scheich Marara im Ohr hatte, fragte mich, an was für eine Tätigkeit ich dachte. »Meinst du nicht auch, dass für dich eigentlich nur die Arbeit als Kaufmann in-frage kommt?«
»Zuallererst denke ich jetzt ans Heiraten«, erwiderte ich prompt.
Verblüfft starrte sie mich an, aber schon wenig später war vom Thema Arbeit nicht mehr die Rede. Stattdessen beschrieb sie mir etliche Töchter von irgendwelchen Kaufleuten, bis ich sie unterbrach: »Meine Wahl ist auf Halima gefallen, die Tochter von Scheich Adli al-Tantawi.«
Sie rang sichtlich um Fassung. »Dieses Mädchen kommt überhaupt nicht infrage«, erklärte sie schließlich.
»Aber ich will sie.«
»Deine Brüder werden die Nase rümpfen.«
Für mich spielten diese Brüder keine Rolle mehr, denn mittlerweile fühlte ich mich als der Herr im Haus. Meine Mutter stimmte meinem Vorhaben widerwillig zu, hegte aber im Stillen die Hoffnung, mich doch noch umstimmen zu können. Ich beharrte weiter auf meinem Wunsch, auch wenn der Preis hoch war. Schließlich gab meine Mutter ihren Widerstand auf. »Dein Glück ist mir wichtiger als alles andere«, erklärte sie, und von da an nahm sie die Aufgaben in Angriff, die ihr oblagen. Sie schritt aus dem Palast hinüber in die Hütte und hielt für mich um Halimas Hand an. Beim nächsten Besuch begleitete ich sie. Eine Weile saßen wir mit Scheich Adli al-Tantawi und seiner Frau zusammen, bevor Halima erschien. Von ihrem Gesicht und den Händen kam nur so viel zum Vorschein, wie es die religiösen Vorschriften erlaubten. Sie blieb ein paar Minuten sitzen, dann ging sie wieder.
Eines schönen Tages fiel mir auf, dass sich mein verehrter Lehrer entgegen seiner üblichen Art recht zurückhaltend benahm. Seine Stimme klang irgendwie verlegen. Plötzlich, er starrte auf seine Schuhe, sagte er: »Es gibt etwas Wichtiges, Kindil.«
Neugierig sah ich ihn an. »Stehe zu Diensten, ehrwürdiger Scheich.«
»Ich kann es nicht mehr ertragen, allein zu leben.«
Der Scheich war Witwer, seine drei Töchter lebten bei ihren Ehemännern. »Das müssen Sie ja nicht«, erwiderte ich in aller Unschuld. »Der Prophet, Heil und Segen über ihn, hat doch nach dem Tod seiner Gattin Chadiga auch noch einmal geheiratet.«
»Das ist wahr, und ich denke auch daran.«
»Jede Familie, sei sie noch so nobel, wird sich glücklich schätzen, einen Mann wie Sie in die Arme zu schließen«, erklärte ich begeistert.
Verschämt murmelte er: »Aber mein Begehren ist auf deine Familie gerichtet.«
»Meine Familie?«
»So ist es, es geht um deine verehrte Frau Mutter.«
»Aber meine Mutter will nicht heiraten«, stieß ich hervor.