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Vielleicht gehörte für mich die Art, wie die Moslems ihren Glauben ausübten, zum Erstaunlichsten in diesem Land. Für mein Empfinden tat sich ein krasser Widerspruch zwischen den äußeren Formen und den verinnerlichten Werten auf. Als ich darüber mit Samija sprach, sagte sie: »Der Unterschied zwischen eurem und unserem Islam besteht darin, dass wir die Tür zur eigenen Meinungsbildung nicht zugestoßen haben. Ein Islam, der selbstständige Urteilsfindung nicht zulässt, hat nichts mit dem Verstand zu tun.«

Diese Worte erinnerten mich an meinen alten Lehrer. Aber wie auch immer, ich war bis über die Ohren in ihre weibliche Anmut verliebt, und ausgehungert wie ich war, konnte ich von ihrer Zärtlichkeit nicht genug bekommen. Ich sah nur das Weib und vergaß dabei völlig, dass ihre Persönlichkeit viel zu stark ausgeprägt war, um dem Begriff Fraulichkeit untergeordnet zu werden. Ich stand von Angesicht zu Angesicht einem glänzenden Verstand und einem aufgeklärten Urteilsvermögen gegenüber, gepaart mit einer geradezu grenzenlosen Güte. Dass ich ihre geistige Überlegenheit immer öfter spürte, kränkte mich, hielt ich es doch für die vornehmliche Aufgabe der Frau, dem Mann Genuss zu verschaffen. Von da an wurde meine leidenschaftliche Liebe von Vorsicht und Angst getrübt, andererseits war mir klar, dass ich mit dieser neuen Situation zurechtkommen musste. Wollte ich mein Glück bewahren, musste ich dieser Frau auf halbem Weg entgegenkommen. Insgeheim wunderte ich mich, dass sie sich mir so freigebig schenkte. Das war wirklich ein unglaubliches Glück, fand ich. Meine Befürchtungen wusste ich gut zu verstecken.

Einmal sagte ich zu ihr: »Du bist ein Schatz, der nicht mit Gold aufzuwiegen ist.«

Offen heraus, wie es ihre Art war, erwiderte sie: »Dafür finde ich einen Mann, der sich um der Wahrheit willen auf Reisen begibt, bewunderungswürdig, Kindil.«

Diese Worte erinnerten mich an mein großes Vorhaben, das ich aus den Augen verloren hatte. Sie weckten mich aus dem Schlaf von honigsüßer Behaglichkeit, in den mich die Liebe, die kommende Vaterschaft und die angenehmen Verhältnisse gewiegt hatten. Hastig, als wollte ich mich von der betäubenden Wirklichkeit befreien, sagte ich: »Ich werde ganz bestimmt der Erste sein, der über das Gaballand schreibt.«

Sie lachte. »Vielleicht liegt es in weiterer Ferne als dieser Traum.«

»Dann werde ich eben der Erste sein, der den Traum zerstört«, entgegnete ich trotzig.

Der Herbst ging vorbei, der Winter kam. Es war zwar nicht kälter als in meiner Heimat, aber es regnete sehr oft. Die Sonne zeigte sich nur selten. Der Wind stürmte und tobte, Donner grollten, Trübsal hielt das Gemüt gefangen. Die Leute klagten über den Krieg, der nicht enden wollte. Mir ging es nicht anders, ich teilte ihr Gefühl. Nichts wünschte ich mir mehr als den Sieg der Freiheit über den Gott-Herrscher. Mein Kind sollte in Frieden und Sicherheit geboren werden.

Eines Abends, als Samija von der Arbeit heimkehrte, strahlte sie übers ganze Gesicht. Sie, die wegen der Schwangerschaft meistens recht erschöpft aussah, wirkte plötzlich wieder frisch und munter. »Es gibt Grund zur Freude — wir haben gesiegt!«, rief sie. Sie zog den Mantel aus, redete aber immer weiter: »Die Haira-Armee hat sich ergeben, der Gott-Herrscher hat sich umgebracht, und das Haira- und das Maschrikland wurden unserem Land angegliedert. Jetzt können auch diese beiden Völker frei und zivilisiert leben.«

Ihre Freude übertrug sich auf mich, aber gleichzeitig lauerte tief in meinem Innern die Angst; sie rührte von den Erfahrungen her, die ich in der Vergangenheit gemacht hatte. »Meinst du nicht, dass die Menschen für ihre Niederlage einen Preis zahlen müssen?«

»Ach was, die Prinzipien der Doktrin sind eindeutig«, wischte sie meinen Einwand weg. »Jetzt steht dem Siegeszug der Freiheit nur noch das Amanland im Weg.«

»Aber wieso? Das Amanland hat euch doch nichts getan. Während dieses ganzen langen Kriegs ist es euch nicht in den Rücken gefallen.«

»Sicher, aber dieses Land hält die Freiheit auf«, fuhr sie mich scharf an.

Es sollte ein denkwürdiger Tag werden, an dem die Armee zurückkehrte. Ganz Halba war auf der Straße, Männer und Frauen strömten in Scharen herbei. Es war kalt, und es regnete in Strömen, aber alle wollten die Armee begrüßen und mit Blumen überschütten. Die Feierlichkeiten hielten eine Woche an, es gab die unterschiedlichsten Feste. Nicht lange, und ich konnte auf meinem Weg ins Geschäft Vorfälle beobachten, die in krassem Gegensatz zum allgemeinen Freudenrausch standen. Seltsame Dinge geschahen, brachen plötzlich ohne jegliche Vorwarnung über einen herein. Es gingen Gerüchte über die Anzahl der getöteten und verwundeten Soldaten um, und die Menschen, die diese Zahlen weitererzählten, zeigten offen ihre Trauer und ihren Unmut. Es wurden Flugblätter verteilt, die den Staat beschuldigten, die Söhne des Volks nicht für die Befreiung des Haira- und des Maschriklands geopfert zu haben, sondern um die Interessen der Großgrundbesitzer, Fabrikanten und Handelsleute zu bedienen.

Es sei ein Krieg der »Güter« gewesen, nicht der Prinzipien. Ich bekam aber auch ein Flugblatt in die Hand, in dem gegen die Feinde der Freiheit, die Helfershelfer des Amanlands, gehetzt wurde. Sogleich gab es Demonstrationen, bei denen unter großem Geschrei das Amanland angeprangert und die Rückgabe der Wasserquellen gefordert wurde. Schließlich hielt der Präsident eine Sitzung mit dem Rat der Sachkundigen ab, und das einstimmige Ergebnis lautete, dass der Vertrag über die Wasserquellen außer Kraft gesetzt wurde. Es würde wieder der alte Zustand hergestellt und die Quellen als gemeinschaftlicher Besitz betrachtet werden. Wieder fingen die Menschen an, Mutmaßungen über einen neuerlichen Krieg anzustellen.

Ich hatte den Scheich und seine Familie zum Mittagessen eingeladen. Wir redeten über dieses und jenes, bis ich ihn schließlich vorwurfsvoll fragte: »Wenn ein klarer Sieg zu Unruhen und Aufruhr führt, was hätte dann eine Niederlage gebracht?«

»Das bringt die Freiheit nun mal mit sich«, erwiderte er.

»Mich erinnert das eher an Gesetzlosigkeit.«

Er lachte. »Für einen, der mit Freiheit nie zu tun hatte, muss das so wirken.«

»Ich habe euch immer für ein glückliches Volk gehalten«, sagte ich bitter. »Aber in Wirklichkeit seid ihr ein Volk, das von seinen inneren Widersprüchen aufgerieben wird.«

»Dagegen hilft nur eins — noch mehr Freiheit.«

»Und wie beurteilst du, moralisch gesehen, die Aufhebung des Vertrags über die Wasserquellen?«

Nun schaute er mich mit großem Ernst an. »Ich habe gestern den weisen Marham al-Halabi besucht. Er hat gesagt, dass die Befreiung der Menschen wichtiger als solche Nichtigkeiten ist.«

»Nichtigkeiten?«, rief ich empört. »Man muss doch bestimmte moralische Grundwerte anerkennen, tut man es nicht, herrscht in der Welt das Chaos!«

Samija mischte sich ein. Sie lachte und sagte: »Aber die Welt war immer und ist noch jetzt ein Chaos.«

»Sieh dir mal dein Land an, Kindil«, meinte der Scheich. »Es ist das Land des Islam, und was findest du da? Einen despotischen Herrscher, der ganz nach Belieben seines Amtes waltet. Wo ist da die Moral? Die religiösen Führer stellen die Religion in seine Dienste, wo ist da die Moral? Ein Volk, das einzig und allein damit beschäftigt ist, dem täglichen Brot hinterherzujagen, wo ist da die Moral?«

Mir steckte ein Kloß im Hals, ich schwieg. Ich musste wieder an meine Reise denken. »Meint ihr, dass es bald Krieg geben wird?«