»Solange eine Seite nicht denkt, dass sie stärker ist«, erwiderte Samija, »wird es keinen Krieg geben. Möglich ist aber auch, dass eine Seite aus lauter Verzweiflung einen Krieg vom Zaun bricht.«
»Überlegst du vielleicht, deine Reise fortzusetzen?«, fragte meine Schwiegermutter.
Ich lächelte. »Erst wenn ich sicher bin, dass mit Samija alles in Ordnung ist.«
Der Winter ging zu Ende, da brachte Samija ihr Kind zur Welt. Statt mich für die Reise zu rüsten, frönte ich dem angenehmen Leben, das mir mein Zuhause und das Geschäft boten. Ich ging völlig in dem Leben in Halba auf, wo ich Liebe, ein gutes Auskommen, Vaterschaft, Freundschaft, die Segnungen des Himmels und unendlich schöne Gärten fand. Ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen, als immer so weiterzuleben. Die Tage vergingen, und im Verlauf der Zeit wurde ich Vater von drei Söhnen — Mustafa, Hamid und Hischam. Ich wehrte mich dagegen, mir einzugestehen, dass mein großer Plan gescheitert sei. Nur manchmal seufzte ich verschämt: »Ach, du meine teure Heimat, ach, du geliebtes Gaballand.«
Eines Tages, ich saß gerade im Geschäft und brachte die Rechnungsbücher auf den neusten Stand, stand plötzlich, ich wollte meinen Augen nicht trauen, Arusa vor mir. Das war kein Traum, auch kein Trugbild, sondern Arusa, wie sie leibte und lebte. Sie trug einen kurzen Rock und einen Schal, der mit Perlen reich bestickt war. Die Frauen aus der gehobenen Schicht zeigten sich im Sommer gern mit solchen Tüchern. Sie war nicht mehr jung, aber ihrer gediegenen, würdevollen Erscheinung haftete noch immer die frühere Schönheit an. Das Unmögliehe war geschehen — vor mir stand das leibhaftig gewordene Wunder. Sie spielte selbstvergessen mit einer Korallenkette, während ich sie völlig fassungslos anschaute. Unwillkürlich trat sie einen Schritt vor, und auf einmal sah sie mich mit Augen, die immer größer wurden, an. Beide, sie und ich, nahmen außer uns nichts mehr wahr. Geradezu flehentlich rief ich: »Arusa!«
Und sie, sie hauchte benommen: »Kindil…«
Wir starrten uns an, konnten den Blick nicht voneinander lösen, doch schließlich schienen wirbeide im gleichen Moment beschlossen zu haben, aufzuwachen und in die Wirklichkeit zurückzukehren.
»Wie geht es dir?«, fragte ich.
»Gut.«
»Lebst du hier in Halba?«
»Ja, seit ich Haira verlassen habe.«
Ich zögerte ein wenig. »Lebst du allein?«
»Ichbin verheiratet, mein Mann ist Buddhist. Und du?«
»Ich bin auch verheiratet, habe Kinder.«
»Ich nicht.«
»Ich hoffe, dass du glücklich bist.«
»Mein Gatte ist ein sehr geachteter und frommer Mann. Ich habe seinen Glauben angenommen.«
»Seit wann bist du verheiratet?«
»Seit zwei Jahren.«
»Ich habe verzweifelt nach dir gesucht, aber es war hoffnungslos.«
»Das ist ja auch eine große Stadt.«
»Wie hast du gelebt, bevor du geheiratet hast?«
Sie winkte unwillig ab. »Das war eine Zeit voller Leid und Qual.«
»Das tut mir Leid«, murmelte ich.
»Es hat ja alles gut geendet. Wir brechen demnächst ins Amanland auf, von dort geht es weiter ins Gaballand, und dann wollen wir nach Indien reisen.«
»Möge Gottes Heil und Segen auf dir ruhen, wo immer du auch bist«, stieß ich inbrünstig hervor.
Sie reichte mir die Hand, ich drückte sie. Dann nahm sie ihre Einkäufe und trat hinaus auf die Straße. Ich hatte das Gefühl, dass ich meinem Partner, der das Geschehen beobachtet hatte, eine Erklärung abgeben müsste, aber dann hielt ich es für besser weiterzuarbeiten. Ich gab mir Mühe, mir von meiner Erregung nichts anmerken zu lassen, auch wenn ich zutiefst überzeugt war, dass nun alles zu Ende war. Offen und ehrlich, fast rücksichtslos, erzählte ich Samija, was passiert war. Das Einzige, was mir ein schlechtes Gewissen machte, war, dass in meiner Brust die neu entfachte Lust aufs Reisen glühte. Mein ganzes Sein geriet ins Wanken, und erschüttert bis in die Grundfesten, brachen Wehmut und sehnsüchtige Trauer über mich herein. Ein heißer Strom von Erinnerungen überflutete mich, drohte mich zu ertränken. Ich will nicht leugnen, dass die alte Liebe sich zu regen begann und auferstehen wollte, aber mein neues Leben wog schwerer, und kein noch so starker Wind konnte es mit sich reißen. Trotzdem besaß der Gedanke aufzubrechen einen unwiderstehlichen Reiz; er drängte sich immer stärker in den Vordergrund und ließ mich jeden neuen Tag mit Sehnsucht erwarten. Aus Angst, mein Vorhaben unverzüglich in die Tat umzusetzen, dachte ich mir krampfhaft Gründe aus, die dagegen sprachen. Schließlich fasste ich den Entschluss, erst in einem Jahr die Reise anzutreten. Ich wollte mir genügend Zeit geben, um meine Lieben darauf vorzubereiten.
Und so geschah es denn auch.
Meine geliebte Gattin fügte sich meinem Willen, und war sie auch nicht begeistert, nahm sie die Nachricht doch ruhig auf. Ich beauftragte den Scheich, mich im Geschäft zu vertreten. Aus der Kasse nahm ich genügend Geld an mich, um anständig leben zu können. Ich versprach, gleich nach dem Abschluss der Reise zurückzukehren und mit meiner Frau und den Söhnen das Land des Islam zu besuchen. Dort wollte ich mein Buch schreiben, meine Verwandten treffen, falls noch einer am Leben war, und dann würden wir alle gemeinsam wieder nach Halba heimkehren. Schweren Herzens nahm ich Abschied von meinen Söhnen, aber noch ergriffener war ich, als ich Samija ein letztes Mal umarmte — meine geliebte Frau, die ein neues Leben unter dem Herzen trug.
Das Amanland
Kurz vor Sonnenaufgang hatte sich die Karawane in Gang gesetzt. Freudig begrüßten wir die ersten Anzeichen des nahenden Sommers. Der Scheich hatte mir fürs Amanland diese Jahreszeit empfohlen. »Der Winter ist mörderisch, der Herbst grausam, das Frühjahr unerträglich, also bleibt dir nur der Sommer«, hatte er gesagt.
Der Zug der Karawane erinnerte mich an frühere Zeiten, nur dass ich jetzt ein alter Mann war, den das Schicksal gezeichnet hatte. Ganz allmählich wurde es hell, und vor meinen Augen breitete sich eine Wüste aus, die mir einen völlig neuen Anblick bot. Es gab viele Hügel, und dazwischen zogen sich flache Täler dahin, in denen Pflanzen wuchsen, die stachlig wie Igel und von saftigem Grün waren. Für mich hatten sie etwas Wildes an sich, das ich von großem Reiz fand. Nach etlichen Wochen erreichten wir das Gebiet, in dem sich die Quellen befanden. Es gab viele davon, trotzdem hatte ich den Eindruck, dass diese Quellen kein hinreichender Grund waren, mit Krieg zu drohen und den Frieden von zwei großen Ländern aufs Spiel zu setzen. Wir zogen weiter, und nach und nach ging es immer stärker bergauf. Am Adlerhügel angekommen, schlugen wir unser Lager auf.
»Wir werden um Mitternacht aufbrechen«, erklärte der Führer der Karawane, »damit wir bei Tagesanbruch vor den Toren Amans stehen.«
Es herrschte eine angenehme Temperatur, als wir unseren Marsch fortsetzten. Endlich war es dann so weit: Im flackernden Licht der Fackeln erhob sich die gewaltige Stadtmauer vor uns. Vor dem Tor machten wir Halt. Ein Mann kam in Begleitung von zwei Fackelträgern heraus und rief mit dröhnender Stimme: »Willkommen in Aman, der Hauptstadt des Amanlands! Willkommen im Land der Gerechtigkeit!« Er verstummte für einen Moment, dann erklärte er: »Die Kaufleute gehen mit einem Begleiter ins Handelszentrum, die Reisenden werden ins Gästezentrum gebracht.«
Ich hatte angenommen, dass ich wie in Maschrik, Haira und Halba gleich zum Gasthaus gehen würde. Aber mein Begleiter steuerte auf ein nicht sehr großes, aber solides Gebäude zu, das offenbar, da es von bewaffneten Männern bewacht wurde, der Sitz einer Behörde war. Ich wurde in einen Raum gebracht, und im Licht der Fackeln sah ich hinter einem Schreibtisch einen Beamten sitzen. Neben ihm standen zwei Wachleute, kerzengerade und regungslos, wie Statuen. Ich musste vortreten, und der Beamte fragte mich nach meinem Namen, dem Alter, dem bisherigen Verlauf meiner Reise und dem Ziel. Er wollte auch wissen, wie viel Geld ich bei mir habe. Ich hielt es für das Beste, ehrlich zu antworten.