»Ich kann doch nicht ohne Abaja[6] auf die Straße gehen«, erwiderte ich unangenehm berührt.
Er lachte. »Überzeugen Sie sich selbst. Nun habe ich doch tatsächlich vergessen, Sie nach Ihrem werten Namen zu fragen.«
»Kindil Mohammed al-Innabi.«
Er hob grüßend die Hand und ließ mich allein.
Es war schon Vormittag, als ich hinausging. Ich trug eine leichte, luftdurchlässige Abaja und einen Turban, um den Kopf vor der Sonne zu schützen. Die Hitze war unerträglich. Ich fragte mich, wie es wohl im Sommer sein mochte, wenn es schon im Frühling so heiß war. Draußen vor dem Eingang versetzten mich zwei Dinge in Angst und Schrecken — die Nacktheit und die Ödnis.
Alle Menschen, Frauen wie Männer, liefen so herum, wie ihre Mütter sie auf die Welt gebracht hatten. Offenbar war das ein völlig übliches Gebaren, denn niemand schaute hin oder kümmerte sich darum. Jeder ging seines Wegs, und nur einer wie ich, ein Fremder, der in Kleidern steckte, erregte Aufmerksamkeit. Die Menschen, deren Haut bronzefar-ben glänzte, waren mager, aber das schien mir weniger mit einem Schönheitsideal zu tun zu haben als mit Nahrungsmangel. Dennoch machten die meisten einen zufriedenen, ja fröhlichen Eindruck. Es fiel mir schwer, mich wegen meiner Kleidung, in der ich umherstolzierte, nicht als absonderlich zu empfinden. Aber noch viel schwieriger war, den Blick von besonders aufregenden Körpern abzuwenden, damit mein Blut nicht ständig ins Sieden geriet. Ich stöhnte im Innern über dieses Land, das einen jungen Mann, wie ich es war, unentwegt ins Feuer der Verführung stieß.
Das Zweite, das mich entsetzte, war diese Ödnis. Es kam mir vor, als hätte ich eine Wüste hinter mir gelassen, nur um in die nächste zu gelangen. Sollte das tatsächlich die Hauptstadt des Maschriklands sein? Wo waren die Paläste? Wo die Häuser? Wo die Straßen? Wo die Viertel mit ihren Gassen? Es gab nichts außer Weideland, und hier und da standen Zelte beieinander, wobei mir ihre Anordnung völlig willkürlich erschien. Vor den Zelten saßen Frauen und Mädchen, die beim Spinnen waren oder die Kühe und Ziegen melkten. Natürlich trugen auch sie keine Kleidung, und konnte man ihre Körper auch durchaus als schön bezeichnen, wurde jegliche Bewunderung im nächsten Moment im Keim erstickt: Sie waren schmutzig, ungepflegt und unterernährt. Aber vielleicht ging ich mit meiner harschen Kritik an diesem heidnischen Land zu weit, denn immerhin konnte man die Verhältnisse damit erklären, dass es sich bei diesen Menschen um Ungläubige handelte. Gab es nicht in meinem islamischen Land ähnliche Zustände, für die es keine solche Entschuldigung gab? Das Einzige, was du tun kannst, sagte ich mir, ist, alles genau zu beobachten, zu notieren und die bitteren Wahrheiten hinzunehmen.
Während ich mich überrascht, ja aufgewühlt umschaute, überkam mich plötzlich eine leidenschaftliche Sehnsucht nach Liebe. Sie musste aus dem tiefen Innern des Liebenden aufgestiegen sein, der sein Sehnen bislang immer zu verbergen wusste. Übermächtig überfiel mich die Erinnerung an Halima, und ihr Bild verschmolz mit der weiten Landschaft, auf die die sengenden Strahlen der Sonne herniederbrannten. Eine Zeit lang stand ich völlig verloren herum, doch dann fiel mein Blick auf ein Mädchen, das aus der Richtung des Gasthauses blitzschnell zu einer Gruppe von Männern und Frauen stürzte und im nächsten Moment im Gemenge verschwunden war. Vielleicht hatte ich sie zuvor schon bemerkt, vielleicht war ich aber auch so stark mit meinen Gedanken beschäftigt gewesen, dass ich mich sozusagen in einem Dämmerzustand befunden hatte. Wie es auch immer sein mochte — dieses Mädchen hatte mein Gemüt in Aufruhr versetzt. Natürlich sah sie wie alle anderen Mädchen aus, sie hatte die gleiche bronzefarbene Haut, aber das Gesicht ähnelte auf bestürzende Weise dem von Halima, meiner verlorenen Liebe. In diesem Moment setzte sich in mir der Gedanke fest, dass dieses Mädchen die Halima von Maschrik sei und ich sie ganz bestimmt wieder sehen würde.
Ich schlenderte herum, lief mal hierhin, mal dorthin. Es gab nichts Neues zu entdecken. Allmählich überkam mich Trägheit, ich wurde immer teilnahmsloser. Trübsal und Schmerz setzten meinem Herzen zu, und meine Fantasie versuchte vergeblich, mir das Bild der Halima von Maschrik heraufzubeschwören. Es war, als würde die Fremde einen anderen Menschen aus mir machen. Aus verborgenen Winkeln meiner Seele krochen kühne Versuchungen hervor; sie drängten mich, mir meine Wünsche zu erfüllen und den Mut zu haben, mich auf Abenteuer einzulassen. Eine Zivilisation aufzugeben, um mich einer neuen zu überlassen. Ein Leben ohne Aufpasser auszukosten, diesen selbst ernannten Wächtern, die sich nach außen so gefestigt geben, aber im Innern wahre Stürme erleben.
Es war schon Nachmittag, als ich mich in einer völlig neuen Umgebung wiederfand. Ich wusste nicht, wie mich meine müden Füße dorthin gebracht hatten. Es war eine Ebene, auf der kein Vieh weidete und keine Hirten zu sehen waren. Die Zelte machten einen sauberen Eindruck. An zwei Seiten standen gewaltige Bäume, solche Ungetüme hatte ich nie zuvor gesehen. In der Tiefe der Ebene stand ein Palast, den eine hohe Mauer umgab; das Tor bewachten Reiter, die von Kopf bis Fuß bewaffnet waren. Es gab hier kein Gewimmel von Menschen, nur ein paar Fremde starrten wie ich staunend zu dem Palast hinüber. Wie kam diese Pracht mitten unter die Zelte? Zweifelsohne war es der Königspalast, und man durfte ihn nicht besuchen. Ich hatte geglaubt, dass irgendein Stammesführer das Land regierte, der entsprechend seiner Stellung in einem großen und stattlichen Zelt lebte.
»Ist das der Königspalast?«, fragte ich einen Mann.
»Sieht so aus«, erwiderte er und starrte neugierig weiter.
Um ehrlich zu sein, stand dieser Prachtbau dem Sultansschloss in meiner Heimat in nichts nach; merkwürdig war nur, dass er in dieser Umgebung völlig fremd wirkte. Die Luft hatte sich ein wenig abgekühlt, nun zeigte der Frühling sein wahres Gesicht. Aber plötzlich überfielen mich wie ein Dämon Müdigkeit und Hunger, und ich beschloss, ins Gasthaus zurückzukehren. Am Eingang saß auf einem Polster, das aus Palmwedeln gemacht war, Herr Fam. Freundlich lächelnd fragte er mich, ob ich auf dem Markt zu Mittag gegessen hätte.
»Keineswegs«, erwiderte ich. »Den Markt habe ich noch gar nicht entdeckt, und nun frisst mich der Hunger auf.«
Ich setzte mich vor meine Kammer, und wenig später kam Herr Fam und brachte mir Brot, eine Scheibe Rindfleisch, gebraten in Öl mit einem Schuss Essig, und obendrein noch einen Teller mit Datteln, Quitten und Weintrauben.
»Soll ich Ihnen ein Glas Dattelwein bringen?«, fragte er.
»Gott bewahre!«, brachte ich gerade noch heraus, bevor ich mich gierig auf das Essen stürzte.
»Aber der Wein versüßt uns doch erst das Reisen«, murmelte er.
Nachdem ich mich satt gegessen hatte, bat ich Herrn Fam, mich zu ihm setzen zu dürfen. Er hieß mich herzlich willkommen, und so verbrachten wir den Abend gemeinsam. Der Mond war nahe daran, voll und rund zu sein, und es wehte ein so laues Lüftchen, dass die drückende Hitze des Tages kaum noch vorstellbar war. Schon wenig später kam ich zur Ruhe, und ich fühlte mich angenehm entspannt.
»Es gibt Zelte, in denen man sich bei Musik und Tanz amüsieren kann. Reisende mögen doch so etwas«, sagte Herr Fam.
»Ein andermal vielleicht, heute nicht«, erwiderte ich.
»Hat Ihnen gefallen, was Sie gesehen haben?«
»Das einzig Sehenswerte ist der Palast. Ich würde gern mehr darüber wissen, aber von den Leuten auf der Straße ist wohl kaum etwas zu erfahren.«