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»Da haben Sie Recht.«

»Der Palast des Königs ist das reinste Wunder.«

Er lächelte. »Es gibt keinen König im Maschrik-land.« Offenbar sah er mir an, wie überrascht ich war, denn im gleichen Atemzug fuhr er fort: »Dieses Land besteht aus der Hauptstadt und vier weiteren Städten. Jede Stadt hat ihren Herrscher, und ihm gehört alles — das Weideland, das Vieh, die Hirten. Die Menschen sind seine Sklaven, und sie gehorchen ihrem Herrn, weil er sie ernährt und beschützt. Das Schloss, das Sie gesehen haben, gehört dem Gebieter der Hauptstadt. Er ist der Größte und Reichste, aber er besitzt keine Oberhoheit über die anderen Herrscher. Jeder von ihnen verfügt über ein bewaffnetes Heer, das aus gedungenen Soldaten besteht. Üblicherweise rekrutiert man sie bei den Wüstenbewohnern.«

Was für ein seltsames System! Es erinnerte mich an die Stämme aus vorislamischer Zeit, oder an die Großgrundbesitzer, die es in meiner Heimat gab, aber verglichen mit den hiesigen Verhältnissen waren die Unterschiede nicht zu übersehen. Dennoch gab es auch etwas Gemeinsames, dass nämlich all diese Entwicklungsstufen auf diese oder jene Weise von Ungerechtigkeit geprägt waren. Deshalb musste ich ehrlicherweise zugeben, dass wir, die Menschen im Land der Offenbarung, größere Schuld auf uns luden als alle anderen Menschen. Doch ich war auf der Hut, wollte mich, wie es einem Fremden zustand, mit kritischen Bemerkungen zurückhalten. Stattdessen fragte ich, wie denn dieses prächtige Schloss gebaut werden konnte, wenn die Untertanen alle einfache Hirten sind.

»Die Ingenieure und Arbeiter hat der Gebieter aus dem Hairaland geholt, und aus dem Halbaland hat er die kostbarsten Möbel und Kunstwerke herangeschafft, die dort zu finden sind«, sagte Herr Fam, und der Stolz, der in seiner Stimme mitschwang, war nicht zu überhören.

Ich wartete ein wenig ab, bevor ich ihn bat, etwas über die Religion zu erzählen, an die die Menschen in diesem Land glauben.

»Das ganze Maschrikland betet den Mond an. Bei Vollmond zeigt sich Gott in seiner ganzen Größe, und dann eilen alle hinaus ins Freie, bilden um den Priester einen Kreis und beten. Danach beginnen die rituellen Handlungen, es wird getanzt, gesungen, getrunken und Liebe gemacht.«

Ich starrte ihn ungläubig an. »Und damit wollen sich die Menschen das ewige Leben im Paradies sichern?«

»Wir kennen weder etwas wie das ewige Leben noch wie das Paradies. Einzig wichtig ist für uns die Nacht, in der sich der Vollmond zeigt.«

Ich zögerte kurz. »Wie sieht es mit der medizinischen Versorgung und der Bildung aus?«

Er zuckte geringschätzig mit den Achseln. »Die Söhne des Gebieters werden in der Reitkunst und in der Lehre vom Gott des Mondes unterwiesen. In jedem Schloss steht ein Arzt zur Verfügung, der aus Haira oder Halba stammt. Ansonsten sind die Menschen der Natur überlassen. Wird einer krank, sondert er sich von den anderen so lange ab, bis er wieder gesund ist. Oder er stirbt und wird von den wilden Tieren gefressen.« Auf meinen fragenden Blick hin fuhr er fort: »Das ist das Gebot des Mondes. Seine Lehren stehen in völligem Einklang mit dem Leben. Deshalb sind wir meistens fröhlich und zufrieden, kein Volk könnte glücklicher sein, Herr Kin-dil.«

In meinen Augen war das nicht mehr und nicht weniger als ein Zustand geistiger Umnachtung, aber das sagte ich natürlich nicht. Stattdessen gratulierte ich Herrn Fam zu diesem seinem Volk und seinem Leben.

Die Nacht verbrachte ich teils mit der Niederschrift meiner Reiseeindrücke, teils mit Grübeleien. Ich dachte darüber nach, welchem Leid der Mensch in diesem Leben ausgesetzt ist. Die Frage quälte mich, ob das Allheilmittel tatsächlich im Ga-balland zu finden sei.

Die Tage vergingen, ohne dass sonderlich Neues geschah. Die einzige Veränderung bestand darin, dass ich den Mut fand, auf einige Kleidungsstücke zu verzichten und in kurzen Hosen und mit einem Käppchen auf dem Kopf herumzulaufen. Eines schönen Morgens drangen ungewöhnliche Geräusche an mein Ohr. Hastige Schritte eilten den Gang entlang, und etliche Gäste tuschelten aufgeregt miteinander. Ich lief schnurstracks zu Herrn Fam, der, kaum hatte ich meine Frage gestellt, freudig rief: »Heute ist die Nacht des Vollmonds! Heute erscheint uns Gott, heute beten und feiern wir.«

Ich war begeistert, vor allem nachdem Herr Fam mir versicherte, dass sich jedem, der dem Fest beiwohne, ein großartiges Schauspiel bieten würde. Auf der Stelle ging ich zum Markttor, in dessen Nähe die Kaufleute ihr Lager aufgeschlagen hatten. Ich wollte meinen Reisegefährten die Neuigkeit mitteilen. Tagsüber arbeiteten sie, nachts besuchten sie die verschiedenen Vergnügungsstätten. Sie zeigten viel Geschick beim Handel, aber mir war aufgefallen, dass sie keinerlei Geschäfte mit den Einwohnern betrieben, sondern nur mit den Bevollmächtigten des Herrschers. Er war der alleinige Käufer und Verkäufer. Der so genannte Markt bestand lediglich aus zwei Reihen von Zelten, in denen man Nahrungsmittel und alltägliche Dinge wie Kämme, kleine Spiegel und billigen Perlenschmuck kaufen konnte.

Ich aß im Gasthaus zu Mittag, ruhte mich bis kurz vor Sonnenuntergang aus und machte mich dann auf den Weg zum Festplatz. Es herrschte ein entsetzliches Gedränge; Männer und Frauen strömten herbei und stellten sich im Kreis auf. Ihre nackten, bronzefarbenen Körper waren schweißbedeckt, und in der Luft lag ein aufregender, die Sinne betörender Duft. Die Sonne sandte ihre letzten Strahlen herab, da zogen am blauen Firmament ein paar Wolken auf, und für ungefähr fünf Minuten setzte ein leichter Regen ein. Die Menschen, erfüllt von Glauben und lauernd auf ein großes Ereignis, brachen in Jubel aus. Kaum war die Sonne in die eine Richtung verschwunden, zeigte sich aus der anderen Richtung der Mond in seiner vollen Schönheit und erhabenen Größe. Da jauchzten die Menschen auf, und das Freudengeschrei war so laut, dass es die Vögel in Angst und Schrecken versetzte. Der Mond stieg höher, verströmte sein goldenes Licht über die nackten Leiber, und die Menschen streckten die Arme aus, als wollten sie den schwebenden Glanz mit Händen greifen. Es trat demütige Stille ein, und sie hielt an, bis der Mond den Zenit erklommen hatte. In diesem Augenblick erscholl von irgendwoher der lang gezogene, warnende Klang einer Trompete, und auf einmal teilte sich die Menge am nördlichen Rand des Kreises und machte den Weg frei für eine Ehrfurcht gebietende Gestalt — groß, nackt, mit wallendem, zerzaustem Bart. Der Mann schritt, auf einen Stock gestützt, in die Mitte des Kreises und verharrte dort. Alle Augen waren auf ihn, den Priester des Mondes, gerichtet, kein Laut war zu hören. Für eine Weile stand der Mann wie erstarrt da, dann ließ er den Stock fallen, hob Kopf und Arme gen Himmel, und im gleichen Moment reckten sich tausende von Armen in die Höhe. Der Priester klatschte in die Hände, und die Menge hob auf einen Schlag einen Gesang an — eine Hymne, ergreifend und mächtig, als hätten sich Erde, Himmel und alles, was da kreucht und fleucht, vereinigt, als wäre jeder und alles vom Zauber des Gesangs und von der Sehnsucht der Liebenden berauscht. Ein heißer Schauder überlief mich, drang bis in die kleinste Faser meines Körpers, machte mich wild und hungrig und ließ mich zugleich vor Furcht und Wonne zittern. In meiner Brust tobten die heftigsten Gefühle, schon glaubte ich, vor lauter Erregtheit bersten zu müssen, da kam ganz sachte eine Schlaffheit über mich, die sich meinen Körper Stückchen für Stückchen eroberte, ihn ruhig und schläfrig machte. Der Priester senkte die Arme, und die Menschen taten es ihm nach. Erwartungsvoll richteten sich alle Blicke auf ihn. Mit der ihm eigenen Würde hob er den Stock auf, hielt ihn fest umklammert mit der linken Hand und begann zu reden. »Hier und jetzt zeigt sich uns Gott in all seiner Schönheit und Erhabenheit, erscheint Er uns zu der von Ihm vorgegebenen Zeit, vergisst Er keinen seiner Diener. Wie wunderbar ist Gottes Gnade, wie gesegnet seine Dienerschar.«