»Was Sie machen sollen, weiß ich nicht. Ich weiß nur, was ich an Ihrer Stelle täte.«
»Nämlich?«
»Ich würde die Vergangenheit vergangen sein lassen und ein neues Leben beginnen. Ich würde also versuchen, alles zu ändern, also in eine andere Stadt ziehen, mindestens aber in ein anderes Haus. Ich würde die Arbeitsstelle wechseln, falls es sich irgend einrichten ließe. Ich würde mir neue Kleider kaufen und meine Frisur ändern, und ich würde mir sogar einen neuen Bekannten- und Freundeskreis aufbauen. Etwas in der Richtung jedenfalls. Außerdem würde ich so viel arbeiten, dass ich jeden Abend vor Müdigkeit aus den Latschen kippe. Dann würde der Schlaf mich suchen, nicht ich den Schlaf. Und schon nach einem Dutzend Tagen würde mir aus dem Spiegel ein Unbekannter entgegenblicken, der nicht annähernd so viel Unglück erlebt hat wie ich. Das ist ein dummer Rat, stimmt's?«
Lady Tanita sah mich überrascht an.
»Er klingt tatsächlich etwas seltsam, aber ich werde es versuchen, Sir Max. Das ist jedenfalls besser, als nach Hause zurückzukehren, wo Karri sowieso nicht mehr ist. Und was Sie da angesprochen haben ... Es ist so einfach, aber allein wäre ich nie im Leben darauf gekommen. Haben Sie schon mal nach Ihrem Rezept gehandelt?«
»Zweimal. Das erste Mal lief es nicht besonders, aber ich bin wenigstens nicht verrückt geworden. Doch beim zweiten Mal hatte ich damit großen Erfolg.«
»Als Sie aus den Leeren Ländern nach Echo gekommen sind?«
»Genau, aber ich hatte auch viel Glück. Hätte es damals nicht Sir Juffin gegeben ...«
»Wir hatten mit Ihnen viel Glück«, sagte Lady Tanita lächelnd. »Wenn sich sogar unter dem Todesmantel ein so netter Mensch wie Sie verbirgt, wird die Welt nicht so schnell untergehen. Ich fahre noch heute in die Neustadt und eröffne dort ein Wirtshaus. Da gibt es kaum Konkurrenz. Ich suche mir neue Mitarbeiter und werde mich entweder behaupten oder ruinieren. Und ich glaube, bis dahin hab ich mich an den Gedanken gewöhnt, dass Karri bloß verreist ist.«
»Sie sind ungemein tapfer, Unvergessliche«, sagte ich begeistert.
Dabei dachte ich, dass ich mir gern selbst so kluge Ratschläge geben würde, wenn mich das Schicksal mal wieder auf die Probe stellte.
Kaum war Lady Tanita verschwunden, ging ich ins Große Archiv. Dort warf Sir Lukfi Penz versehentlich einen Stuhl um, so gedankenverloren bewegte er sich zwischen den kichernden Buriwuchen. Melifaro saß in einem Sessel und schlenkerte genauso geistesabwesend mit den Beinen.
»Und?«, fragte ich schon auf der Schwelle.
»Nichts, absolut nichts«, gab Melifaro zurück und betonte dabei jede Silbe. »Kein einziger verrückter Magister hat sich bisher eine einfache Methode ausgedacht, schnell und lecker einen Festschmaus zuzubereiten. Apropos Essen: Ich bin bereit, mein Versprechen dir gegenüber auf der Stelle einzulösen. Und ob mit dir oder ohne dich, liebes Nachtantlitz - ich geh jetzt was futtern. Sonst gibt es noch eine Leiche.«
»Sir Lukfi, möchten Sie nicht mitkommen?«, fragte ich.
»Das ist leider nicht möglich, Sir Max«, antwortete unser Oberster Wissenshüter und breitete schuldbewusst die Arme aus. »Erstens muss ich bis zur Abenddämmerung hierbleiben, und zweitens besitzt meine Frau ein Restaurant, sogar ein sehr gutes. Als wir uns kennen lernten, hab ich ihr versprochen, nie in einem fremden Wirtshaus zu essen. Abgesehen vom Fressfass natürlich -wer für Sir Juffin arbeitet, kommt um den Laden ja nicht herum, und dafür hat Waruscha Verständnis. Ich hatte ihr eigentlich nur eine Freude machen wollen, doch nun bin ich an mein Versprechen gebunden.«
»Und wie heißt das Wirtshaus Ihrer Frau? Dort können wir ja auch mal essen.«
»Aber natürlich, Sir Max. Es heißt Der dicke Mann in der Kurve und liegt in der Neustadt. Wissen Sie, wo?«
»Na sicher!« Der Gedanke, dass die vergötterte Gattin von Sir Lukfi zum kleinen Kreis der Verdächtigen gehörte, verbesserte meine Stimmung und meinen Appetit.
Der Bucklige Itulo war das teuerste Restaurant von Echo und lag ziemlich weit vom Haus an der Brücke entfernt. Deshalb war ich dort erst zweimal gewesen.
Das erste Mal war ich zufällig dort gelandet. Damals war ich noch damit beschäftigt, mich in der Hauptstadt zu orientieren. Die Preise dieses Wirtshauses hatten mich erschüttert. Sie sind viel höher als im Fressfass, das auch nicht gerade billig ist. Klar, dass die astronomischen Preise meine Neugier weckten - ich musste unbedingt herausfinden, was man für so viel Geld bekam.
Mehr als alles andere hatte mich die Inneneinrichtung irritiert, denn es gab weder Theke noch Tische - nur einen breiten Korridor mit vielen Türen. Eine ältere, dunkelhaarige Kellnerin mit finsterem Gesicht hatte mir eine davon geöffnet. Dahinter befand sich ein kleines Separee mit rundem Tisch, auf dem ein Springbrunnen plätscherte. Die Kerzen erzeugten ein sehr anheimelndes Halbdunkel. Die Einrichtung hatte mich beeindruckt, und das Essen gefiel mir nicht minder. Ich hatte nur das Gefühl, zu wenig Gourmet zu sein, um alle Nuancen der ausgezeichneten Küche würdigen zu können.
Erst vor kurzem war ich zum zweiten Mal im Buckligen Itulo gewesen und hatte dort für Chuf ein wenig Gebäck gekauft.
Offenbar gehörte auch Melifaro nicht zu den Stammkunden.
»Ich fühle mich hier wie ein Dummkopf«, gestand er und nahm Platz. »Wie ein Dummkopf, der nichts anderes zu tun hat, als sich den Bauch mit Delikatessen vollzuschlagen.“
»Darum wollte ich ja hierher«, bemerkte ich trocken.
»Willst du dich auch wie ein Dummkopf fühlen?«
»Auf keinen Fall! Ich wollte nur, dass du merkst, wie teuer ich dich zu stehen kommen kann.«
»Sir Nachtantlitz, hast du etwas zu tief ins Kachar-Balsam-Glas geschaut? Ich will dir Gutes tun, und du machst dich über mich lustig? Du hast eine rätselhafte Seele, mein Kind der Leeren Länder.«
Die Tür öffnete sich, und der legendäre Itulo kam herein. Er war nicht nur für seinen Buckel bekannt, sondern auch dafür, alle dreihundert Gerichte auf der Speisekarte eigenhändig zuzubereiten. Darum mussten die Gäste enorm viel Geduld haben und mitunter mehr als drei Stunden warten.
»Lassen Sie bitte die Tür auf. Die Luft ist ein wenig dick.«
»Ich hab doch gesagt, dass du mit dem Balsam übertrieben hast«, meinte Melifaro und zwinkerte mir freundlich zu. Atemnot ist nämlich das erste Zeichen einer Überdosis.
»Zu den Magistern mit dir! Was würdest du wohl sagen, wenn du den ganzen Tag in diesem Aufzug verbringen müsstest«, meinte ich und wies mit Abscheu auf meinen Todesmantel.
»Herr Itulo! Wir lüften hier eins der größten Geheimnisse des Universums: Der Tod schwitzt! Allerdings nur manchmal.«
Melifaro verzog das Gesicht und gestikulierte vor der Nase des Wirts herum. Der gehörte allerdings nicht zu den humorvollsten Menschen von Echo, sondern lächelte lediglich pflichtbewusst und legte dabei einen Folianten auf den Tisch, der eher einer Gutenbergbibel ähnelte als einer Speisekarte.
Ich überließ Melifaro die Auswahl - schließlich würde er auch die Rechnung übernehmen. Und wenn ihm der Sinn danach stand, eine halbe Stunde seines kostbaren Lebens damit zu verplempern, den Unterschied zwischen der Pastete Kalter Traum und dem Braten Himmlischer Körper zu klären, wollte ich nicht so unmenschlich sein, ihm diesen intellektuellen Genuss zu verderben.
»Meine Herren, falls für Sie das Raffinement eher im Einfachen liegt, möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf diese Seite hier lenken«, sagte Itulo.
»Was können Sie jemandem empfehlen, der mürbes Pferdefleisch gewöhnt ist?«, fragte Melifaro listig.
»Na ja ... Ich habe einen ausgezeichneten Braten, den ich nach altem Rezept aus dem Herzen eines zu Tode gehetzten Pferdes zubereite. Das ist ein teurer Spaß, weil man das ganze Tier bezahlen muss. Sie können sich nicht vorstellen, meine Herren, was so ein Pferd kostet. Und dazu noch der, der es zu Tode reitet. Von den Gewürzen ganz zu schweigen.«