»Hast du darauf Lust, Max?«, fragte Melifaro etwas besorgt. »Bei dir will ich ja nicht geizen.«
»Ach komm«, murmelte ich. »Ich interessiere mich eher für das Raffinement des Einfachen. Außerdem ist es eine Schweinerei, Tiere so zu quälen.«
»Das finde ich auch, mein Steppenkind«, stimmte mir der Hobbyanthropologe erleichtert zu und vertiefte sich wieder in die Speisekarte. Der bucklige Wirt brummte etwas in seinen Bart, und mein Freund blätterte genüsslich die Seiten um. Ich verfolgte mit halbem Ohr den sich hinziehenden Dialog und wandte mein glühendes Gesicht dem kühlen Lüftchen zu, das vom Korridor hereinwehte. Und plötzlich ...
Sir Juffin Halli hatte wirklich Recht, was mein unerhörtes Glück anlangte: Das schwache Aroma, das ich nun witterte, war der gleiche merkwürdige Duft, den ich zuletzt in der Leichenhalle des Hauses an der Brücke geschnuppert hatte!
»Ich will das!«, rief ich und zeigte mit dem Finger zur Tür.
»Was möchten Sie?«, fragte der Wirt beunruhigt.
»Das, was da duftet. Und du willst es auch, stimmt's?«, meinte ich und sah Melifaro, der sich ebenfalls zur Tür gewandt hatte, bedeutungsvoll an.
Schon nach dem Bruchteil einer Sekunde zeigten seine dunklen Augen, dass er verstanden hatte.
»Ja, Herr Itulo, wir haben uns entschieden. Das riecht einfach fantastisch. Welche Nummer ist das?«
»Das geht nicht, meine Herren«, sagte der Wirt köpfschüttelnd. »Dieses Gericht steht nicht auf der Karte. Es wäre vergebens, danach zu suchen.«
»Wieso denn?«, fragte Melifaro und sprang auf.
»Es ist ein sehr teures Gericht.«
»Na prima«, rief ich. »Wir wollten doch was Teures probieren, oder, mein armer Freund?«
»Genau«, brummte Melifaro, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Wie dem auch sei, meine Herren - das ist leider unmöglich.« Der Wirt blieb unerbittlich. »Die Zubereitung dieses Gerichts dauert mindestens ein Dutzend Tage. Ich hab einige Stammgäste, die es im Voraus bestellt haben. Ich kann Ihnen natürlich entgegenkommen, aber Ihre Portion wird erst in ... nein, genau kann ich nicht sagen, wann sie fertig wird, da ich manche Zutaten sogar aus Arwaroch beziehe. In unserer Hemisphäre wachsen sie nicht. Ich kann Sie auf die Warteliste setzen, aber versprechen kann ich Ihnen nichts.«
»Na gut«, meinte ich abwinkend. »Bringen Sie uns was Einfaches mit Raffinement. Aber bitte auf keinen Fall Pferdeherz. Was die übrigen Details anlangt, verlassen wir uns ganz auf Ihren Geschmack.«
»Ich würde Ihnen zu den Nummern 37 und 39 raten, meine Herren«, sagte der Wirt sichtlich erleichtert. »Darauf müssen Sie höchstens eine Stunde warten, für hiesige Verhältnisse also sehr kurz. Was möchten Sie bis dahin trinken?«
»Kamra!«, rief ich.
»Kamra? Vor dem Essen? Aber Ihre Geschmacksknospen?«
»Dann nehmen wir noch einen Krug Wasser dazu, damit unsere Geschmacksknospen hübsch sauber sind,
wenn das wichtigste kulinarische Ereignis ihres Lebens auf sie zukommt. Und lassen Sie bitte die Tür auf - hier drin ist es sehr stickig.«
Kaum waren wir allein, konnte Melifaro sich endlich aussprechen.
»Es riecht wie bei uns in der Leichenhalle. Gelobt sei deine große Nase, Max!«
»Ich nehme das mal als Kompliment. Schon immer hab ich mir gewünscht, eine größere zu haben - so eine wie Juffin Halli.«
»Du hast wirklich einen furchtbaren Geschmack. Deine Nase ist doch der letzte Schrei«, stellte Melifaro fest.
»Na ja, besonders schön ist sie nicht gerade. Setz dich jetzt bitte mit Sir Kofa in Verbindung. Ich werde leider schnell müde, wenn ich Stumme Rede benutze. Sag ihm, wir haben hier den gleichen Duft gerochen wie in der Leichenhalle, und bitte unseren Meister des Verhörs, uns zu sagen, was er über die Sache denkt.«
»Ermüdet dich die Stumme Rede wirklich?«, fragte Melifaro erstaunt.
»Versetz dich doch mal in meine Lage«, konterte ich. »Hast du schon mal eine fremde Sprache erlernt?«
»Irgendwann schon. Es ist schwer, der Sohn meines Vaters zu sein, ohne seltsame Sprachen exotischer Dummköpfe büffeln zu müssen, die kein normales menschliches Idiom beherrschen.«
»Dann verstehst du mich also?«
»Ich bemitleide dich sogar. Deshalb also hört sich die Stumme Rede bei dir so seltsam an.«
»Na los, melde dich bei Sir Kofa Joch, du oberschlauer
neunter Band der Enzyklopädie von Sir Malifaro
Ich bin schon sehr gespannt darauf, was er sagt.
»Ich mach ja schon«, meinte Melifaro und setzte eine kluge Miene auf. Offenbar hatte er mit unserem Meister des Verhörs bereits Verbindung.
Nach einigen Minuten bekamen wir zwei Krüge gebracht - einen mit Kamra, den anderen mit Wasser -, und Melifaros Gesicht bekam wieder einen menschlichen Ausdruck. Sogar mehr als das, weil der Arme vor Informationen und Schlussfolgerungen beinahe platzte. Als die finstere Kellnerin verschwunden war, befand er sich am Rande einer Ohnmacht.
»Deine Nase ist einfach phänomenal!«, rief er begeistert. »Erstens glaubt Sir Kofa zu wissen, um welches Gericht es sich handelt, nämlich um die Pastete König von Bandscha. Dieser Leckerbissen ist schon seit langem legendenumwoben. Selbst in der Ordensepoche konnte nicht jeder Koch ihn zubereiten - und heutzutage erst recht nicht. Das Problem ist, dass dafür mindestens Magie zehnten Grades nötig ist. Itulo aber gehört zu den gesetzestreuesten Bürgern von Echo. Seit der Epoche des Gesetzbuchs hat er sich nicht das kleinste Vergehen zuschulden kommen lassen. Das ist recht widersprüchlich, findest du nicht? Sir Kofa Joch erzählt auch, die Sache mit der Pastete sei sehr geheimnisvoll. Diese Spezialität steht tatsächlich auf keiner Speisekarte. Auch unser Meister des Verhörs hat mehrmals versucht, sie zu bestellen, und man hat ihm immer versprochen, ihn auf die Warteliste zu setzen - genau wie uns. Aber unter den Bürgern unserer Stadt gibt es einige, die dieses Gericht gekostet haben. In letzter Zeit hat Sir Kofa mehrere Gespräche darüber aufgeschnappt. Und es gibt noch etwas Interessantes: Unter den Glückspilzen, die dieses Essen kosten durften, waren keine reichen Leute, sondern nur normale Bürger, die sich so ein teures Restaurant allenfalls einmal im Jahr leisten können. Und Itulo tut immer so, als ob unsere beiden Gehälter für den Besuch seines Lokals nicht ausreichen würden.«
»Kein Wunder - mit Leuten wie uns will er einfach nichts zu tun haben«, sagte ich nickend.
»Mit Mitgliedern des Geheimen Suchtrupps? Das ist vernünftig. Irgendwas stimmt mit dieser komischen Pastete nicht.«
»Waren das schon alle Neuigkeiten?«
»Wo denkst du hin! Weißt du, wo General Bubuta Boch gestern zu Mittag gegessen hat?«
»Sündige Magister! Doch wohl nicht hier?«
»Und ob, Max! Und nicht zum ersten Mal! Schon vor zwölf Tagen hat er diese Leckerei hier genossen. In letzter Zeit hat er nur noch hier gegessen.«
»Ich glaube, sein Gehalt ist nicht kleiner als unseres. Aber täglich hier zu futtern, geht doch wohl schwer ins Geld.«
In mir erwachte ein kleiner, geiziger Junge, der sich um Bubutas Portemonnaie sorgte.
»Er verdient weniger als wir, Max. Er bekommt nur die Hälfte dessen, was Geheimagenten verdienen. Wusstest du das nicht?«
»Nein. Die ganze Geschichte gefällt mir nicht, Melifaro. Hier passt nichts zusammen. Soweit ich weiß, geben Leute wie Bubuta ihr Geld ungern diskret aus. Und hier gibt es überall Separees. Mich stören zwar fremde Fratzen beim Essen, aber einen wie Bubuta doch nicht! Warum soll er so viel fürs Essen zahlen, wenn ihm nicht alle dabei Zusehen, wie er tafelt? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Bubuta allein in einer Spelunke sitzt und genüsslich jeden Bissen kaut.«
»Was ist denn eine Spelunke, Max?«, fragte Melifaro. »Du benutzt heute unglaublich viele merkwürdige Worte.«
Ich rieb mir die Schläfen. Was bedeutete Spelunke? Und warum besuchten die Helden meiner Lieblingsbücher - allen voran Sherlock Holmes - immer solche Orte? Ach, ja: weil sie Opium rauchen wollten! Und wie endeten ihre Besuche dort? Armer Bubuta! Aber wo konnte man in Echo Opium bekommen? Und wozu brauchte man es hier, da man doch jederzeit Erholungssuppe löffeln konnte? Ich begriff gar nichts mehr.