Den Rest der Nacht spazierte ich durch Echo und erschreckte Passanten mit meinem Todesmantel. Kühnste Erwartungen jagten mir durch den Kopf. Ein Instinkt, der bisher geschlummert hatte, verlangte nach Heldentaten, doch meine anerzogene Zurückhaltung hielt mich davon ab, in Lady Melamoris Schlafzimmer einzudringen.
Stattdessen kehrte ich widerwillig in meine Wohnung zurück. An Schlaf allerdings war nicht zu denken. Zwei Stunden lag ich grübelnd im Bett, ehe ich mich aufraffte und viel früher ins Haus an der Brücke ging als üblich.
Du kannst nicht schlafen, was, Max?«
Selten hatte ich meinen Chef zufrieden erlebt - und so glücklich wie heute noch nie.
»Was ist passiert? Ist Bubuta gestorben?«
»Ach, dem geht's gut. Er will dich und Melifaro einladen, wenn er das Bett wieder verlassen darf. Sei also auf das Schlimmste gefasst. Ich glaube, es lebt sich schwer damit, der Retter von General Bubuta Boch zu sein, und vermute, seine Dankbarkeit wird dich sehr viel mehr strapazieren als sein Zorn. Aber was soll's! Erinnerst du dich noch an die Tschakata-Pirogge?«
»Natürlich. Haben Sie davon wieder mal eine Portion auftreiben können?«
»Es geht um grundsätzlichere Dinge: Demnächst wird diese Pirogge allen zugänglich sein, auch dir und mir.«
»Wollen Sie das Chrember-Gesetzbuch umschreiben?«
»Ich wusste doch schon immer, dass du einen guten Riecher hast. Du hast es wieder mal erraten, Max. Umschreiben will ich das Gesetzbuch zwar nicht, doch ich habe vor, eine kleine Korrektur anzubringen. Der Entwurf ist schon vorbereitet. Wir brauchen nur noch die Zustimmung des Großen Magisters Nuflin. Deshalb fahren wir jetzt zu ihm.«
»Juffin«, begann ich, weil mein Erstaunen mir die Sprache nicht ganz verschlagen hatte, »wozu brauchen Sie mich dabei? Ich bin mit dem Leben in Echo vollauf zufrieden. Glauben Sie wirklich, Sie müssen unbedingt mich in die Residenz des Ordens des Siebenzackigen Blattes mitnehmen? Was sagen Sie zu meiner Augenfarbe? Fürchten Sie nicht, eines Tages im Cholomi-Gefängnis zu landen, weil Sie sich mit einem fremden Wesen wie mir abgeben? Lady Melamori würde das sicher nicht gutheißen.«
»Hat sie dir das eingeredet? Sie ist schon ein lustiges Mädchen. Aber Sir Nuflin ist im Gegensatz zu ihr ein ernster Mensch. Und er ist schon vierhundert Jahre alt. Er weiß sehr viel über erlaubte und erst recht über unerlaubte Magie. Am Ende der Traurigen Zeit haben sich seine Boten mir zu Füßen geworfen, weil er so gut Bescheid wusste. Ohne Leute wie mich und Sir Maba hätte der Orden der Wasserkrähe ...«
»Wasserkrähe?«, kicherte ich.
»Ja, jetzt kann man darüber lachen. Vor hundertfünfzig Jahren aber war das überhaupt nicht lustig. Hinter diesem Orden stand eine sehr gefährliche Kraft, deren Machenschaften die Welt in die Hände der Dunklen Magister hätte fallen lassen können. Aber wir haben sie vor diesem Schicksal bewahrt, so gut es eben ging.«
»Wasserkrähe klingt trotzdem lustig«, sagte ich unbeirrt. »Hat König Gurig seinen Sieg in der Schlacht um das Chrember-Gesetzbuch also Ihnen zu verdanken?«
»Jedenfalls teilweise. Wenn du mal so weit bist, wenigstens die Hälfte davon zu begreifen, erzähle ich es dir. Sei bitte nicht sauer, doch die Fähigkeit, diese Dinge zu verstehen, hängt von Erfahrung ab, nicht von geistiger Anstrengung. Aber jetzt zurück zu deiner Frage: Ich nehme dich und Kofa einfach deshalb mit, weil Sir Nuflin mich darum gebeten hat. Er ist der Hausherr und kann das entscheiden.«
»Will er sich ein barbarisches Wesen aus einer anderen Welt ansehen?«
»Meinen potenziellen Nachfolger will er kennen lernen.«
Ich wäre fast in Ohnmacht gefallen. Prompt begann ich mit Sir Lonely-Lokleys Atemübungen. Das hielt mich bei Bewusstsein.
»Nimm das alles nicht so schwer«, sagte Juffin lächelnd. »Was kümmert es dich, was in dreihundert Jahren geschieht? Soweit ich weiß, hast du ohnehin nicht gehofft, so lange zu leben. Also kannst du meine Ankündigung ja wie eine Nachricht behandeln, die sich auf etwas bezieht, das sich erst lange nach deinem Tod ereignet. Einverstanden?«
»Einverstanden«, seufzte ich. »Aber ich hoffe, das ist kein Scherz.«
»Jetzt hab ich von deiner Skepsis aber genug! Du wusstest doch von Anfang an, warum ich dich hergebracht habe, auch wenn du es immer verdrängt hast. Einiges kannst du ja inzwischen - also mach mir bitte etwas Kamra, damit du nicht aus der Übung kommst.«
»Das hört sich schon besser an. Jetzt blamiere ich mich, Sie degradieren mich zum Kellner, und alles ist wieder im Lot.«
Stell dich nicht so an«, murmelte Juffin und nahm einen Schluck von meinem magischen Gebräu. »Na bitte - heute schmeckt die Kamra schon viel besser als vorgestern.«
Genau eine Stunde vor Sonnenuntergang tauchte Sir Kofa Joch auf. Diesmal zeigte er sein eigentliches Gesicht und trug dazu einen fantastischen purpurroten Lochimantel. Noch nie hatte ich ein derart kräftiges Rot gesehen, das pulsierend zu lodern schien.
»So was darf nur Sir Kofa tragen«, verriet mir Juffin. »Er hat sich hier in Echo zweihundert Jahre lang um Ruhe und Ordnung gekümmert. Damals hatte der Leiter der Stadtpolizei ein höheres Ansehen als jeder Große Magister - ungelogen! Dank Kofas heldenhaftem Einsatz ist die Traurige Zeit an Echo fast spurlos vorübergegangen. Manchmal, wenn ich die Echoten satthabe, könnte ich ihn dafür allerdings umbringen.«
»Ja, ich bin schuld«, sagte Sir Kofa und senkte den Kopf. »Aber was hätte ich denn tun sollen? Das gehörte nun mal zu meinen Pflichten.«
»Und warum sitzt General Bubuta Boch inzwischen an Ihrer Stelle?«, fragte ich. »Aufgrund von Intrigen?«
Juffin und Kofa tauschten einen Blick und brachen in Lachen aus. Ich sah sie weiter ahnungslos an.
»Du hast offenbar noch immer nicht kapiert, wo du arbeitest«, meinte Sir Kofa Joch, der sich als Erster beruhigt hatte. »Aber ich erkläre es dir gern. Ich bin befördert worden. Und zwar sehr weit nach oben. Weißt du etwa nicht, dass Sir Juffin die zweitwichtigste Person im Staat ist?«
»Nach dem König?«
»Unsinn, nach Magister Nuflin natürlich. Aber du, ich und Seine Majestät Gurig VIII. gehören immerhin zum illustren Dutzend der wichtigsten Leute im Staat.«
»Unglaublich«, sagte ich kopfschüttelnd.
»Kopf hoch, Max. Ich hab dir nur eine inoffizielle Version der staatlichen Hierarchie geliefert. Und jetzt lass uns fahren.«
So fuhren wir denn nach Jafach.
Die sichtbaren Tore der Burg Jafach - der Residenz des Ordens des Siebenzackigen Blattes, des Wohltuenden und Einzigen Ordens - werden nur bei Sonnenaufgang und bei Sonnenuntergang geöffnet. Morgens strömen Abgesandte des Königshofs und andere Regierungsvertreter in die Burg; abends trudeln dunkle Gestalten wie wir ein. Es heißt, der Kleine Geheime Suchtrupp sei die bedrohlichste Organisation im Vereinigten Königreich. Eingeweihte lachen allerdings über diesen Witz.
Nuflin Moni Mach - der Große Magister des Ordens des Siebenzackigen Blattes - erwartete uns in einem düsteren Saal. Im Halbdunkel war es unmöglich, seine Miene zu erkennen. Dann begriff ich, dass er gar kein Gesicht hatte. Besser gesagt: Er hatte es vergessen, und darum konnte es niemand mehr sehen. Dann merkte ich, dass der Große Magister höchstpersönlich mir diese Erklärung per Stummer Rede hatte zukommen lassen.
»Ihr könnt euch nicht vorstellen, meine Lieben, welches Glück es für mich bedeutet, euren Besuch noch zu erleben.«
Die Stimme von Magister Nuflin zeigte, dass er hoch betagt war, doch trotz des Zitterns lag eine so große, unbegreifliche Kraft darin, dass es mich eiskalt überlief. Der alte Mann schlug allerdings einen humorvollen, durchaus freundlichen Ton an. Wie jeder, der sich seines Charismas bewusst ist, brauchte er seine Gäste nicht zu erschrecken.
»Du arbeitest für Juffin, Junge?«, fragte Nuflin und musterte mich sichtlich neugierig. »Wie gefällt es dir bei ihm? Ich habe gehört, dass du sehr erfolgreich bist. Genier dich nicht vor dem alten Nuflin, Max. Vor mir hat man Angst oder auch nicht. Ersteres gilt für dich nicht, denn schließlich sind wir keine Feinde. Du brauchst mir nicht zu antworten. Setz dich nur hin und hör zu, was die älteren Leute reden. Vielleicht kannst du davon später deinen Enkeln erzählen. Obwohl - woher sollen bei dir schon Enkel kommen?«